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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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sein.«
    Ich war vor Schock halb ohnmächtig. In diesem Zustand fuhr ich mit Noni am Feuer vorbei zum Friedhof. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur noch an den Anblick der offenen Gräber, die der Totengräber erst am Tag zuvor ausgehoben hatte. Sie quollen über vor verwesenden Leichen, die übereinander gehäuft und alle nicht abgedeckt waren. In einer noch größeren, flachen Grube gleich daneben saß der dahingeraffte Totengräber aufrecht neben seiner Schaufel, die mit dem Handgriff nach oben im Boden steckte. Über seinem Schoß lagen mehrere unverhüllte Leichen, die man hastig auf ihn geworfen hatte. Er wirkte wie ein grausames Abbild Marias, die den verstorbenen Jesus beweint. Wie wir uns der Leiche meines Vaters entledigten, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr. Die unbeschreibliche Abscheulichkeit der Erinnerung hat es mich vergessen lassen. Ich vermute, wir haben ihn vom Wagen gezogen und ihn auf die anderen Leichen gebettet. Das war entsetzlich, doch was hätten wir oder die anderen Dorfbewohner sonst tun sollen? Wie waren zu schwach, die Toten mit Erde zu bedecken, und neben den stinkenden Gruben zu verweilen, bedeutete, die Pest geradezu herauszufordern.
    Wir müssen wieder nach Hause gefahren sein, doch dessen entsinne ich mich ebenso wenig, denn meine Umgebung erbebte und versank. Ich tauchte tief in eine Fieberwelt ein, die teils Vision, teils Traum, aber auch Delirium war -eine Welt, die aus Pest und Feuer bestand. In den Flammen erkannte ich das Gesicht des alten Juden, und die Gesichter meiner Familie - meines armen Vaters, meiner Mutter, selbst das von Noni. Wieder sah ich die Schatten der Menschen, die sich in den Flammen wanden, und ich hörte ihre Schreie. Wieder kämpfte ich um sie, bis ich vollkommen erschöpft war. Und als ich nicht mehr kämpfen konnte, legte ich mich hin, ergab mich den Flammen und schrie: »Was ist das nur für ein Übel?« Und die Göttin antwortete: »Furcht.« Mit einem Ruck holte mich die Gegenwart wieder ein. Ich schlug die Augen auf und fand mich im Innern unserer kleinen Kate, auf dem Bett meiner Eltern. Der Tag brach gerade an, schwaches Sonnenlicht strömte durch die offenen Fenster herein. Das Feuer im Herd war fast erloschen; daneben lag Noni auf dem Stroh.
    Ihre Schürze war voller Blutflecken. Sie hatte ihre Witwenhaube abgesetzt und die dunklen Haarschnecken über ihren Ohren aufgelöst, sodass ihr die dicken Zöpfe bis zur Hüfte herabhingen. Ihr Gesicht sah verkniffen und grau aus, und sie lag so still, dass ich einen furchtbaren Moment lang dachte, sie sei an der Pest gestorben, während ich schlief. Ich richtete mich auf und jammerte laut, als ich erkannte, dass ich allein im Bett war. Auch Maman musste gestorben sein, von unserer Familie war keiner übrig geblieben.
    Sogleich sprang Noni auf und eilte zu mir. Ich schluchzte hemmungslos vor Erleichterung. »Noni! Ich dachte schon, du wärst tot!«
    Meine geliebte Großmutter brach in Tränen aus, ebenso wie meine Mutter, die neben dem Feuer saß. Bleich und zerbrechlich hielt sie eine Schüssel Suppe in den Händen. Als Noni wieder reden konnte, erklärte sie, ich hätte drei Tage lang dem Tode nahe mit der Pest gerungen. Ich wusste, was sie dachte: dass ich mich selbst verwundbar gemacht hatte, als ich mein Amulett meinem sterbenden Vater gegeben hatte. Da wurde mir klar, dass mich das Amulett des Juden gerettet hatte.
    In jener Nacht, als ich erneut aufwachte und die Strohmatratze unter mir mit Blut getränkt war, erschrak ich zutiefst und dachte, die Pest sei zurückgekommen. Doch Noni lächelte nur.
    »Deine Monatsblutung hat eingesetzt«, flüsterte sie. »Bald wirst du in die Gefolgschaft der Göttin eintreten.«
VIII
    Nachdem die Pest besiegt war, wurde unser Leben von Überfluss und Armut gleichermaßen bestimmt. Der Müller und seine Frau waren gestorben und hatten niemanden hinterlassen, der den Weizen aus der Scheune des alten Jacques hätte zu Mehl mahlen können. Unzählige Leibeigene, mein Vater eingeschlossen, waren umgekommen, sodass die Überlebenden sich auf den verlassenen Feldern, in den Obstgärten und Weinbergen des Grand Seigneurs frei bedienten, da sie von niemandem bewacht wurden.
    Was wir uns nicht nahmen, verrottete und verweste an Ort und Stelle, wie die meisten armen Seelen, die starben, ohne Angehörige zu hinterlassen, die sie hätten beerdigen können. Dieses Schicksal war auch unseren Nachbarn George und Therese und all ihren Söhnen

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