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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Luft anhalten. Als er es bemerkte, schaute er mir direkt in die Augen. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass sie grün waren und mich die Wärme zutiefst beunruhigte, die sich in meinem Innersten auszubreiten begann und ganz offensichtlich - dessen bin ich mir sicher - auch meine Wangen überzog. Als ich mich aus Justins Umarmung löste, bemerkte ich neben Mattheline einen großen dunklen Kater, der sklavisch um sie herumstrich und sie um gut zwei Köpfe überragte. Noch nie hatte ich einen auch nur annähernd so großen Menschen gesehen. Er stellte sich auf seine stämmigen Hinterbeine und klatschte in die Vorderpfoten, dann beugte er das Gesicht - die großen Reißzähne, die aus dem Unterkiefer ragten, wirkten furchteinflößend, obwohl seine Miene freundlich war - zu seiner Herrin herab, als fürchtete er, ihm könnte auch nur ein geflüstertes Wort oder eine kleine Veränderung in ihrem Ausdruck entgehen.
    Von Zeit zu Zeit verblasste er ein wenig, sodass ich durch ihn hindurchsehen konnte, und einmal verschwand er sogar ganz. Um ehrlich zu sein, ich befürchtete schon, ich sei verrückt geworden oder Noni habe mir ein merkwürdiges Kraut ins Essen gemischt, doch der Rest der Welt schien ganz in Ordnung zu sein. Bis ich zu Noni hinüberschaute in der Hoffnung, ihr zuflüstern zu können, was ich gesehen hatte. Neben meiner Großmutter stand nämlich ruhig und gelassen der dünne Geist eines gut aussehenden jungen Mannes mit einem weißen Türkenturban. Das Wesen hatte die Fingerspitzen aneinander gelegt und neigte lächelnd den Kopf, um mich zu grüßen. Ich nickte kurz und hoffte, die anderen würden es nicht bemerken.
    Justin wiederum war in Begleitung eines hübschen weiblichen Geistes, der aussah wie seine geliebte Bernice im Kindesalter.
    Schon mehrmals hatte ich in traumähnlichen Visionen Dinge wahrgenommen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten, und ich hatte Kinder im Leib der in den Wehen liegenden Mütter ausmachen können. Doch nie hatte ich hellwach auf beiden Beinen gestanden und Wesen gesehen, die ganz offensichtlich nicht von dieser Welt stammten, und das beunruhigte mich. Ich griff nach Nonis Hand, und als sie sah, wie besorgt ich war, gab sie mir mit einem warnenden Blick zu verstehen, ich solle den Mund halten. Ich gehorchte und verbarg meine Unruhe so gut es ging während des restlichen Geschehens, da weder Mattheline noch Justin Notiz von unseren seltsamen Gästen nahmen, und ich glaube, auch Noni bemerkte sie kaum. Schließlich ließ Noni meine Hand los und bedeutete uns mit einer Geste, uns hinter sie zu stellen. Während wir ihren Anweisungen folgten, schielte ich mit einem Auge auf die anderen, um ihre Bewegungen nachzuahmen. Ana Magdalena schaute genau nach Norden, wo hinter der Holzstatue der Göttin und dem grünen Schleier aus Olivenblättern die Stadt Toulouse schlief, dunkel und unergründlich. In tiefem, gutturalem Ton stimmte sie einen Singsang in ihrer Muttersprache an (zumindest vermutete ich das, da ich kein Wort verstand), zunächst langsam, dann etwas schneller, wobei ihre Stimme allmählich immer höher wurde ...
    Ich hob mein Gesicht zum Himmel empor und sah, dass sich das Licht von Mond und Sternen an einem bestimmten Punkt hoch über unserem kleinen Kreis bündelte und immer stärker wurde, bis es sich schließlich in Bewegung setzte ... Deosil, hatte Noni es zuvor genannt und erklärt, es bewege sich im Uhrzeigersinn, der Richtung des Einladens, des Verbindens. Es wirbelte immer schneller, wurde zu einem Strudel, der immer tiefer sank, bis er schließlich in den schwachen blauen Schleier eindrang, der uns umgab, und Ana Magdalena einhüllte. Wie schön sie wurde! Obwohl ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, sah ich, wie sie plötzlich aufrechter, kräftiger, größer wurde, als wäre das Licht ihr in die Knochen gedrungen und höbe sie zum Himmel empor. Als sie mit ausgestreckten Armen das herabfallende Licht begrüßte, rutschten ihre Ärmel hoch und entblößten ihre Haut.
    Zu meinem Erstaunen war sie nicht mehr sonnengebräunt und von Altersflecken übersät, sondern glühte weiß und war von einem leuchtenden Schein umgeben, ebenso stark wie der Glanz des Mondes. Ich musste die Augen zusammenkneifen und konnte in dem grellen Licht die zarten Umrisse des türkischen Geistes nicht mehr erkennen. Noni legte den Kopf in den Nacken, sodass die Haube herabsank und ihr offenes, blauschwarzes Haar freigab, das von schimmernden, silbernen Strähnen durchzogen war und

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