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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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beschieden. Trotz des Gestanks, der aus ihrer Kate herüberzog - vor allem, als das Wetter wärmer wurde - hielt uns die Furcht vor der Pest davon ab, sie zu betreten. Dennoch erbten wir einen Teil ihres Wohlstands: ihren Esel mitsamt dem Karren, sechs Schweine, ein paar Hühner und das Gemüse, das in Thereses Garten wuchs. Es mangelte uns zwar an Brot, aber wir ernährten uns von allerlei Gemüse, von Fleisch und Milch, da Ziegen, Schafe und Kühe auf der Suche nach ihren toten Besitzern umherstreunten.
    Doch mit dem Gestank des Todes drang auch Kummer in unser kleines Dorf. Germain, mein Zukünftiger, starb nicht an der Pest, sondern an einer der ihr nachfolgenden Krankheiten, bei dersich die Eingeweide auflösen. Trauer überkam mich - schließlich war er ein anständiger Mann -, ebenso wie ein tiefes Schuldgefühl über die Erleichterung, die ich empfand. Für kurze Zeit legte ich den schwarzen Schleier und die Haube einer Witwe an, was mir eine so verblüffende Ähnlichkeit mit meiner Großmutter verlieh, dass selbst Maman uns von Ferne verwechselte. Doch ich war nicht die Einzige: Alle zogen Trauerkleidung an. Wohin wir auch gingen - auf den Marktplatz, ans Flussufer, auf die Felder - überall herrschte eine gespenstische Leere. Maman nahm mich jeden Tag mit zur Messe und zündete eine Kerze für Papa an. Ich sollte sie begleiten, weil sie sich ohne meinen Vater einsam fühlte, doch sie befürchtete auch, dass Noni mich vom christlichen Pfad abbrachte. Und sie hatte Recht.
    Denn obwohl ich regelmäßig in die Kirche ging, waren alle meine Gebete an die Heilige Mutter gerichtet und beinhalteten die Bitte, ich möge bald erfahren, was ich tun solle, um mein Schicksal zu erfüllen. Noni hatte begonnen, mich ernsthaft in das Wissen der pagani einzuführen, der Menschen vom Lande, die sie auch als das Geschlecht bezeichnete. Bald wurde mir bewusst, dass mir Nonis Magie schon sehr vertraut war, etwa wie sie Beutel mit Kräutern füllte und ihnen mit Hilfe eines einfachen Gebets Heilkraft verlieh. Sobald ich wieder leidlich auf den Beinen war, nahm sie mich auf der Suche nach Essbarem mit auf die Felder. Da Maman noch zu schwach war, begleitete sie uns nicht, und so konnte meine Großmutter frei über die alten Bräuche reden. Die meisten Kräuter kannte ich bereits, denn sie hatten eine heilende Wirkung, doch Noni sprach jetzt auch von ihrer magischen Kraft. Da gab es Lavendel für heilenden Zauber, Rosmarin zum Schutz und zur Wiederherstellung des Gedächtnisses, Augentrost zur Unterstützung des Zweiten Gesichts.
    Zwei Kräuter zeigte sie mir indes, die ausschließlich magischen Zwecken dienten. Sie seien gefährlich und würden daher nur sparsam und allein von Eingeweihten angewandt - und wenn die Zeit gekommen sei, wolle sie mich in ihrem Gebrauch unterweisen. Das eine war Bilsenkraut, das einem die Fähigkeit verlieh zu fliegen, das andere...
    Und hier, flüsterte sie ehrfürchtig, als wir am Fuße einer uralten Eiche hockten und einen gewöhnlichen, etwas verwachsenen Pilz bewunderten, liegt der Schlüssel zum Beginn.
    Sie sprach immer von Beginn, obwohl ich in späteren Jahren immer nur den Begriff Weihe dafür hörte. Eines Tages, als wir beide vormittags im Gemüsegarten vor der Kate knieten und das Erdreich umgruben, während Maman sich drinnen ausruhte, hob Noni das Gesicht zum hellblauen, wolkenlosen Himmel empor. Ich folgte ihrem Blick und sah ihn, knapp über dem Horizont: den Mondgeist, einen kreisrunden, elfenbeinfarbenen Schein. »Ein wunderschöner, voller Mond«, bemerkte Noni bewundernd. »Heute Abend treffen wir uns. Bereite dich vor.«
    Wortlos arbeitete sie weiter.
    Vor Erregung hatte es mir die Sprache verschlagen, sonst hätte ich sie mit Fragen überhäuft. Stattdessen beendete ich schweigend und nach außen hin ruhig meine Arbeit, während mein Herz und meine Seele zwischen Freude und Furcht schwankten.
    Am späten Nachmittag kochte Noni einen Gemüseeintopf mit einem großen Huhn. Ich reichte Noni Mamans Teller und sah verblüfft zu, wie sie mit versteinerter Miene eine große Portion Eintopf hineinschöpfte, dann ein Pulver darüber streute und das Ganze mit Mamans Löffel umrührte. Da wir mit dem Rücken zu dem Krankenlager standen, warf ich meiner Großmutter einen scharfen, fragenden Blick zu, aber Noni zuckte nur mit den Schultern und legte noch ein Hühnerbein auf den Teller. Vor Aufregung und Schuldgefühlen schaudernd brachte ich meiner Mutter das Abendessen, das sie mit

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