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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ihr bis über die Hüfte reichte. Sie richtete sich auf und ließ die Arme sinken. Dann zeigte sie nach Norden und rief mit hoher Stimme einen Befehl. Unfähig, meine Freude zurückzuhalten, kicherte ich laut, denn die Luft hatte sich mit einem Mal belebt, sie vibrierte, als wäre sie mit der Energie von Tausenden summender Bienen erfüllt oder dem Wirbel eines heftigen Sturms. Justin und Mattheline rechts und links von mir waren derart verzückt, dass sie meinen Ausbruch gar nicht bemerkten.
    Dann wandte sich Ana Magdalena - etwas viel Größeres als Ana Magdalena - gen Osten. Dabei zog sie mit dem Zeigefinger in Hüfthöhe ein dickes, goldenes Lichtband. Ich kann mich noch genau an ihr Profil erinnern, wie schön, wie alterslos es geworden war. Sie vollzog eine weitere Drehung, dann noch zwei, und wir schauten wieder nach Norden, vollkommen eingeschlossen von einem glänzenden Ring aus Gold. Der dünne blaue Schleier um uns herum hatte sich inzwischen in eine stabile, saphirfarbene Kugel verwandelt, in der goldene Funken glitzerten.
    Eine durchsichtige Kugel. Zu meiner Überraschung sah ich außerhalb des Kreises erneut Wesen stehen. An allen vier Punkten, denen Noni sich vorher zugewandt hatte, ragten Riesen fast bis in den Himmel empor. Jeder erstrahlte in einer anderen Farbe, im Moosgrün und Braun der Erde, im glänzenden Gelb der Sonne, im sengenden Rot und Orange des Feuers und im tiefen Blau des Meeres. Ich nenne sie Riesen, dabei hatten nur zwei von ihnen, der Gelbe und der Moosgrüne, eine annähernd menschliche Gestalt. Die beiden anderen, der Rote und der Blaue, verkörperten vielmehr reine Kraft, sie waren Säulen aus schillerndem, lebendigem Licht, das der Sonne, den Sternen oder dem Mond ähnlicher war als jeder Mensch und jede Kreatur. Ihr Äußeres wirkte herzlos und nüchtern wie Stein, wie der Tod gar, doch ich fürchtete mich nicht vor ihnen, denn mir war bewusst, dass sie als Wächter dort standen, um uns zu beschützen, und bereit waren, uns zu dienen, wenn wir es ihnen auftrügen.
    Hinter ihnen, jenseits des hellen, trostspendenden Kreises, schwebte eine Fülle dunkler, gestaltloser Wesen, begierig, jede beliebige Form anzunehmen, die ihnen auferlegt wurde. Wieder andere waren offensichtlich bereit, sich wie Blutegel an jeden zu hängen, dem der Wille fehlte, sie abzuschütteln.
    Bald schon wurde meine Aufmerksamkeit von ihnen abgelenkt, denn Noni drehte sich zu uns herum, ein lebendes Abbild der Göttin, deren Statue hinter uns stand. Ihr Gesicht strahlte, Hände und Arme hatte sie leicht ausgebreitet - dieselbe einladende Geste, die ich bei vielen Marienstatuen gesehen habe. Das Leuchten, das von ihr ausging -von ihrem Innern -, brannte mir in den Augen, doch der Anblick war viel zu schön, als dass ich hätte wegsehen können.
    Selbst Justin und Mattheline standen ehrfürchtig neben mir, obwohl sie die Göttin in meiner Großmutter sicher schon oft zu Gesicht bekommen hatten. Als Ana Magdalena fragte: »Was wollen meine Kinder von mir?«, verneigte Mattheline sich und erwiderte mit aufrichtiger Ehrerbietung: »Meine Tochter, meine Clothilde, ist krank. Ich wünsche mir, dass sie wieder gesund wird.« Daraufhin streckte meine Großmutter die Hände einladend nach Mattheline und Justin aus. Die beiden wiederum ergriffen meine Hände.
    Sogleich spürte ich einen Funken, so wie man ihn zuweilen im Winter bei trockener Witterung spürt, und etwas wogte von den beiden zu mir herüber und durch mich hindurch, wie das Prickeln eines Blitzes, bevor er die Erde berührt.
    Die Empfindung wurde stärker, als wir begannen, langsam seitwärts zu schreiten, sodass unser kleiner Kreis sich im Uhrzeigersinn zu bewegen begann. Ana Magdalena bestimmte den Rhythmus, wurde allmählich schneller und sang mit leiser Stimme fremde Worte, die ich wieder nicht verstand, bis auf Diana, Diana, la bona Dea ... Die beiden anderen fielen in den Gesang ein, und ich versuchte so gut wie möglich mitzuhalten, bis Mattheline sich zu mir beugte und die Worte langsam wiederholte. Dabei erklärte sie mir: »Wir stellen uns einen großen weißen Kegel vor, der mit der Spitze in der Mitte unseres Kreises steht. Er wird stärker und stärker werden, bis wir ihn meiner Clothilde schicken.«
    Tatsächlich nahm ich daraufhin in unserer Mitte einen Strudel aus weißem Licht wahr, der sich immer schneller drehte, während wir selbst immer wilder tanzten. Die Nacht war kühl, doch schon bald brach uns allen der Schweiß aus, nicht vom

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