Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
dünnen, blassen Augenbrauen hoch.
»Nächsten Monat schon? Wieso braucht die Enkelin der Priesterin nur einen Monat zu warten, während ich mich acht und Justin sich gar neun Monate gedulden musste?«
»Matthe«, ermahnte Justin sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sie ist die Priesterin und hat das Recht ...« Mattheline beruhigte sich und sagte nichts mehr, doch eine kleine Falte des Missfallens wollte nicht von ihrer Stirn weichen.
»Ihr habt schon immer gewusst, dass meine Sybille in zweifacher Hinsicht mit der Sehergabe gesegnet ist«, erklärte Noni ihnen. »Ihr ganzes bisheriges Leben habe ich sie auf den Pfad vorbereitet. Ich habe sie jetzt mitgebracht, weil sie bereit ist. Im nächsten Monat wird sie beginnen.«
In jener Nacht wurde nicht mehr geredet, bis Noni und ich uns von den anderen getrennt hatten und über die Weide nach Hause gingen. Nach langem Schweigen begann meine Großmutter: »Justin ist ein netter Kerl. Das Zweite Gesicht ist bei ihm lange nicht so stark ausgeprägt wie bei seiner Mutter, doch seine Familie gehört dem Geschlecht an.«
»Matthelines nicht«, bemerkte ich versuchsweise. Sie holte tief Luft und seufzte. »Vergangene Generationen schon, aber durch schlechte Ehen hat sich die Zugehörigkeit verloren. Trotzdem fühlt sie sich zum Pfad hingezogen.«
Wieder schwiegen wir eine ganze Weile, und ich hatte das Gefühl, als hingen unausgesprochene Worte zwischen uns in der Luft, doch ich wollte den rechten Augenblick abwarten, als Noni schließlich sagte: »Es ist dir bestimmt, mein Kind, über unseren kleinen Kreis hinauszuwachsen. Die Pest hat ihren Griff gelockert, doch es stehen uns noch schlimmere Gefahren bevor. Deine Gabe ist viel größer als meine, und in einem Monat wird deine Zauberkraft ebenfalls so weit sein. Dann ...«
»Aber welche Magie gibt es schon hier im Dorf, die noch mächtiger ist als das, was ich heute Nacht gesehen habe?«
»Die Magie in dir, Sybille. Deine Bestimmung ist eine andere.« Sie sprach so liebevoll, mit einer solchen Achtung, dass ich ganz bestürzt war. Doch ich wusste, sie meinte es sehr ernst, da sie mich nur selten mit meinem französischen Namen anredete, wenn wir allein waren. »Aber ich verstehe nicht ...«
»Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es verstehen. Hier.« Aus der Tasche ihres Kittels zog sie ein schwarzes Stoffsäckchen, das an einem Band hing, und hielt es mir hin. »Das wird dich vor allen schädlichen Einflüssen in dieser wichtigen Zeit beschützen, denn nie zuvor bist du verwundbarer gewesen.«
Ich nahm den kleinen Beutel entgegen und hängte ihn mir dankbar um den Hals. Doch Noni streckte mir noch immer eine Hand entgegen, diesmal erwartungsvoll. »Das goldene Amulett, das trägst du doch noch?« Das tat ich zwar, aber plötzlich widerstrebte es mir zutiefst, mich davon zu trennen.
Als ich zögerte, rang Noni ungeduldig die Hände. »Mein Kind, jetzt kann es keinen anderen Einfluss als den der Göttin auf dich geben. Der Talisman des Juden hat dich ohne Zweifel behütet und vor der Pest bewahrt, doch mein Amulett wird dein Leben nicht nur in dieser, sondern auch in der unsichtbaren Welt beschützen, die nun von deiner Existenz weiß. Ich brauche den Talisman jetzt. Kannst du mir vertrauen?«
Ohne weiteren Protest zog ich den goldenen Talisman an der schönen Kette über meinen Kopf und ließ ihn in die hohle Hand meiner Großmutter gleiten. »Ich werde besonders gut darauf achten«, versprach sie lächelnd. Erst viel später habe ich wirklich begriffen, was sie damals meinte.
In dem Monat vor meiner Weihe blieb mir genügend Zeit, über Nonis Worte nachzudenken, doch nie zuvor war mir die Göttin ferner gewesen, waren meine Gedanken verworrener und widersprüchlicher.
Deine Bestimmung ist eine andere ...
Ein alberner Gedanke, denn aus welchem Grund sollte ich wohl mein Dorf verlassen? Nie im Leben wollte ich Noni und meine Mutter im Stich lassen. Niemals ... Als solche beängstigenden Gedanken mich beschlichen, versuchte ich sie mit der Vorstellung zu vertreiben, wie mein Leben an der Seite eines Schmieds aussehen würde. Nur wenige Tage nach meinen ersten Erfahrungen im Kreis hatte Justin bei Maman vorgesprochen und sie überredet, mich sofort mit ihm zu verloben. So geschah es.
Ein Tag im nächsten Monat, im September, wurde vereinbart, und Justin machte mir den wunderschönen Eichenwebstuhl seiner verstorbenen Mutter zum Geschenk. Der Gedanke, den Sohn des Schmieds zu ehelichen, erschien mir nicht
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