Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
größerem Appetit verzehrte als gewöhnlich.
Noni und ich setzten uns vor unsere Portionen, die kleiner und ohne Zusatz waren. Es dauerte keine Stunde, und Maman schnarchte lange vor Einbruch der Dämmerung in ihrem Bett, während Großmutter und ich schweigend am noch glühenden Herd saßen. So verharrten wir eine Stunde, jede in ihren eigenen Träumen versunken und gewiss voller Fürbitten und Gebete für die bevorstehenden Ereignisse. Ich für meinen Teil bat darum, das Opfer des Juden - sein Leben für mein Leben - möge nicht vergebens gewesen sein und dass ich genau erführe, was ich als Dienerin Dianas tun sollte. Schließlich wurde es Nacht, obwohl das Mondlicht taghell durch die geöffneten Fenster hereinströmte. Hand in Hand standen wir auf und verließen unsere kleine Kate.
Das Gras und die Wildblumen fühlten sich weich und kühl unter unseren bloßen Füßen an, als wir Toulouse, das hoch vor dem mondhellen Himmel aufragte, den Rücken kehrten. Es überraschte mich nicht, als ich merkte, dass wir auf den großen, alten Olivenhain zusteuerten. Die Holzstatue der Jungfrau Maria hatte ich schon oft bei den Frühlingsfesten gesehen, wenn sie mit Blumengirlanden geschmückt war. Ich selbst hatte sogar einmal auf dem geheiligten Boden vor dem Bild der Jungfrau gestanden und mit anderen Kindern gemeinsam Blumenopfer dargebracht. Schon damals hatte ich gespürt, dass ich auf heiligem, der Großen Mutter geweihtem Boden stand, und Noni hatte mir später erzählt, die hölzerne Figur ersetze eine alte römische aus Stein, welche die mit einem Halbmond gekrönte Diana darstellte.
Wir betraten also den Olivenhain, schritten unter knorrigen Ästen mit blassgrünen Blättern einher. Meine Aufmerksamkeit wurde sofort von der Lichtung vor uns angezogen, aus der ein bläulicher Schimmer drang. Als wir schließlich dorthin kamen, leuchteten über uns hell die Sterne und der Mond. In einer wabernden Kugel sah ich drei Gestalten: die mit Rosmaringirlanden behängte Statue der Heiligen Mutter und zwei weinende Menschen, ein Mann und eine Frau, die in einem frisch gezogenen Kreis auf dem Boden saßen. Als wir näher kamen, schauten sie zu uns auf, vielmehr zu meiner Großmutter, und ihre tränenüberströmten Gesichter erhellten sich vor Freude. »Ana Magdalena!«, jauchzte die Frau, gleichzeitig rief der junge Mann: »Wir dachten schon, Ihr wärt tot!« »Meine Kinder«, sagte Noni, bedeutete mir mit einer Geste, stehen zu bleiben und näherte sich dem Kreis. Mit ihrem Zeigefinger drückte sie einen Spalt in den blauen Schimmer, mit dem Fuß löschte sie einen Teil des Kreisbogens auf dem Boden. Sie winkte mich heran, und ich schritt vor ihr rasch durch die Öffnung ins Innere. Hinter uns versiegelte sie die Öffnung, sodass die goldene Kugel uns wieder umschloss, und zog mit dem Zeigefinger den Kreisbogen nach.
Danach nahm sie die Frau fest in den Arm. »Ach, Mattheline! Meine Mattheline! Sind wir denn als Einzige übrig geblieben?«
»Ja«, antwortete Mattheline schluchzend. Sie war vielleicht zwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt, hatte das typische kindliche Gesicht, das nie zu altern scheint, und war dünn wie ein ausgemergelter Vogel. Ihre Haare, die wie dunkles Gold glänzten, waren mit einigen braunen Strähnen durchzogen, ihre Augen hatten eine ähnliche Farbe. »Mein Guillaume ist tot, und mein kleiner Marc, mein Junge!« Meine Großmutter hielt sie eine Armlänge von sich. »Aber das Kind, deine Chlothilde ...«
»Sie lebt.« Das Elend in Matthelines Stimme ließ nicht nach. »Doch sie leidet unter starken Koliken, sie will nichts Festes essen, und ich habe keine Milch ...«
»Ach, meine Armen!«, Noni legte ihre Hand sanft in den Nacken der Frau und drückte Matthelines Stirn an ihre Lippen. »Jetzt sind wir zusammen, die Göttin wird uns helfen ...«
Mattheline zog sich verbittert zurück. »Aber wo war Sie denn, als mein Sohn und mein Mann starben?«
»Du sprichst schon wie eine Christin, Mattheline«, entgegnete der junge Mann vorwurfsvoll. Seine Stimme klang trotz der gerade noch vergossenen Tränen ruhig. Er beugte sich herab und umarmte meine Großmutter mit tiefer Zuneigung und großem Respekt, und da begriff ich, dass Noni immer die Anführerin der Gruppe gewesen war. »Justin«, murmelte sie. Als die beiden sich aus der Umarmung lösten, fragte sie leise: »Und wen hast du verloren, mein Sohn?«
Justin war Schmied, von großer, kräftiger Statur und bekannt für sein bedächtiges, ernstes
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