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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Wesen.
    Doch sein Gesicht bebte, als er mit tränenerstickter Stimme antwortete: »Meinen Vater. Meine Mutter. Meine Schwester Amelis, obwohl alle anderen wohlauf sind. Und meine ...« - an diesem Punkt holte er tief Luft, um die Beherrschung nicht zu verlieren - »... meine Bernice.« Dabei ließ er den Kopf hängen und schluchzte hemmungslos, während meine Großmutter ihm den Arm streichelte und unter Tränen sagte: »Mein Pietro ist auch gestorben. Und wo sind Lorette und Claude, Mathilde, Georges und Marie, Gerard, Pascal, Jean und Jeanne-Marie ... ?«
    »Ach!«, rief Mattheline. »Wir waren dreizehn, jetzt sind wir nur noch zu dritt.« Plötzlich redete sie mit großen, angsterfüllten Augen wie ein Wasserfall auf meine Großmutter ein. »Der Priester sagt, es ist alles nur wegen der Hexen, die insgeheim dem Teufel huldigen. Sie treiben sogar schändlichst Unzucht mit ihm. Pater Jean behauptet, sie benutzten Zauber, so wie wir, aber ihre sind immer böse, und sie tun nichts lieber, als uns einfaches Volk mit Flüchen zu belegen. Sie streunen des Nachts durch den Wald, und ich habe Angst, dass ich ihnen einmal begegnen könnte. Sie rauben auch kleine Kinder und lassen deren Fett aus, um daraus Zaubersalben herzustellen. Ich habe geweint, als ich meiner kleinen Clothilde heute Abend einen Gutenachtkuss gab.«
    Schließlich hielt sie inne und holte tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Es klingt, als sei der Teufel ein sehr mächtiger Gott, und wenn es stimmt, dass sein Zauber stark genug ist, die Pest über uns zu bringen und fast unseren kleinen Kreis zu zerstören, dann ist er am Ende noch stärker als unsere Göttin ...!« »Genug jetzt!«, befahl Ana Magdalena barsch, als die junge Frau die letzte Silbe aussprach. »Mattheline, das hat man davon, wenn man auf den Priester hört - nichts als Furcht und Misstrauen. Dreißig Jahre lang bin ich nachts in den Wald gegangen, und ich habe nie jemanden gesehen, der Böses tut. Außerdem will ich nichts davon hören, dass ihr Teufel, ein unbedeutender Gott unter ihren vieren, mächtiger sei als Sie, die Mutter aller Götter. Nein, diese Geschichte über böse Hexen, welche angeblich die Pest über uns gebracht haben, ist genauso irrsinnig wie die von vor zwanzig Jahren, als im Languedoc nach mehreren Missernten eine Hungersnot ausbrach. Wieder einmal werden Juden verbrannt. Viele sind bereits in den Süden gezogen, in die Sicherheit Spaniens.« Sie hielt inne, und mit einem Mal blickte sie ganz schwermütig. »Jetzt müssen wir als Gruppe darauf achten, dass uns niemand bei der Ausübung eines Zaubers oder bei unseren Zusammenkünften hier im Wald entdeckt, sonst werden wir am Ende noch als Hexen angeklagt und verbrannt.
    Denn ob es nun welche gibt oder nicht, die Priester und die Dorfbewohner werden gewiss welche finden.« »Wenn es keine Hexen gibt«, entgegnete Mattheline mit so leiderfüllter Stimme, dass mir Tränen in die Augen stiegen, »und wenn der Zauber der Göttin tatsächlich der mächtigste von allen ist, warum hat er dann nicht unsere Lieben vor dem schrecklichen Tod bewahrt?«
    »Die Göttin schenkt Leben und Freude, deshalb muss Sie auch Tod und Leid schenken, das bringt diese Welt nun mal mit sich. Wie sollten wir das eine kennen, wenn wir nicht wissen, wie das andere ist?«, fragte Ana Magdalena leise, tätschelte der jungen Frau die Hand und zog sie damit sanft wieder zurück in unsere kleine Gruppe.
    »Aber sieh: Wir leben. Ist das denn kein Grund zur Freude? Und wir sind nicht nur zu dritt, sondern zu viert. Dies ist meine Enkelin Sybille.«
    Mich vorzustellen war eigentlich überflüssig, denn ich kannte die beiden schon von Kindesbeinen an flüchtig. Obwohl meine Familie nie die Dienste eines Schmiedes in Anspruch nehmen musste, waren wir doch oft an Justin und seinem Vater vorbeigekommen, die in der Nähe des Dorfplatzes arbeiteten, oder hatten beobachtet, wie Justin seiner Verlobten Bernice verliebt in die Augen schaute. Mattheline und ihren Mann hatte ich häufig im Dorf getroffen, vor allem auf dem Markt. Trotzdem kam ich mir wie eine Fremde vor, denn jetzt sah ich sie in einem ganz anderen Licht.
    Mattheline riss sich trotz ihrer Trauer zusammen, trat mit Würde einen Schritt vor und gab mir auf beide Wangen einen federleichten Kuss.
    »Willkommen in der Gemeinschaft.«
    Justin tat es ihr nach, auch wenn seine Küsse entschieden schüchterner ausfielen, und doch stärker, außerdem ließ mich das Kratzen seines Bartes auf meinem Gesicht die

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