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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Tanz, sondern von der unglaublichen Hitze, die der Kegel erzeugte. Unser Gesang war jetzt so hoch, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr höher singen zu können, doch es war möglich. Die Hitze, der Kraftstrom und der Gesang, die in jedem Teil meines Körpers vibrierten, waren schier unerträglich, geradezu ekstatisch geworden. Der Kegel war inzwischen so breit und groß, dass er unsere blaue Kugel mit seiner Spitze durchbohrte und uns verschlang, und derart undurchsichtig, dass ich Noni vor mir nicht mehr erkennen konnte. Da hörte ich meine Großmutter rufen: »»Jetzt!«
    Mit einem gemeinsamen Laut des Erschreckens hörten wir auf zu tanzen, sodass wir gegeneinander taumelten. Noni, Justin und Mattheline streckten die Arme hoch in die Luft und nahmen dabei auch meine mit. Die Kraft stieg von uns empor. Das offene Ende nach oben gerichtet, segelte der Kegel in den nächtlichen Himmel und suchte nach Matthelines Tochter.
    Er fand sie auch. Mit dem Zweiten Gesicht sah ich ihn durch unser kleines Dorf wirbeln, zur angelehnten oberen Türhälfte einer Kate hinein, wo auf dem großen Strohbett ein mehrere Monate altes Kind in Windeln lag und unruhig schlief. Blass und kränklich wirkte es, kahl wie ein Neugeborenes, die Haut gelb, die Wangen hohl, mit dunklen Ringen unter den Augen, die viel zu tief für ein so kleines Gesicht waren. Das Licht des Kegels umhüllte die Kleine, und zwar mit dem offenen Ende zuerst. Langsam drang das Licht in ihren Körper ein, bis sie von innen her zu leuchten schien, die fahle Hautfarbe schimmerte nun in leichtem Pfirsichrosa. Während ich zuschaute, seufzte das Kind einmal kurz und erleichtert auf und sank dann in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
    Die anderen konnten es nicht sehen, doch ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter waren gerötet, und sie lächelten selig. Erschöpft und schweißüberströmt beendeten wir den Zauber, und auch ich war überglücklich, denn ich hatte die Macht der Göttin auf neue Art und Weise erlebt. Doch es sollte nicht der einzige bleiben, den wir in jener Nacht ausübten. Noni hatte verschiedene Kräuter mit in den Kreis gebracht, die wir gemeinsam mit magischer Kraft ausstatteten und anschließend in der Hoffnung zu uns nahmen, dass die Göttin unserem Dorf im bevorstehenden Herbst und Winter beistehen möge.
    Auch brachte Noni mehrere Gebete und Bitten mit ihren Gesängen zum Ausdruck. Zuletzt wandte Ana Magdalena sich nacheinander den vier Himmelsrichtungen des Kreises zu und begann, unsere hoch aufragenden Wächter einen nach dem anderen zu entlassen. Ich war enttäuscht, denn ich hatte, während ich meine Sehergabe einsetzte, oder in Gegenwart der Göttin, noch nie zuvor dauerhaft eine solche Freiheit empfunden. Ich wünschte mir, der Kreis würde niemals aufgelöst.
    Genau in dem Augenblick, als der leuchtend gelbe Riese sich zum Gehen wandte, erhaschte ich einen Blick auf eine Kugel aus weißem Licht direkt hinter ihm; sie war beständig wie ein Leuchtturm und erfüllte mich mit unsäglicher Freude, denn ich wusste, sie wartete auf mich. Doch als der Saphirwächter in Richtung Westen ging, fiel mein Blick auf eine pechschwarze Säule ... Nein, wenn ich das Wort »pechschwarz« benutze, um zu beschreiben, was ich sah, verunglimpfe ich es. Denn ohne die angenehme Erleichterung, die von der Dunkelheit ausgeht, und das funkelnde Schwarz der Nacht würden wir die Helligkeit des Tages mit der Zeit hassen. Doch dies war nichts als Leere, weder dunkel noch hell, vielmehr Ödnis, sie bedeutete das Fehlen jeglichen Lebens oder jeglicher Hoffnung.
    Und auch das wartete auf mich.
    Obwohl meine Knie zu zittern begannen, gelang es mir, auf den Beinen zu bleiben, während Noni den Kreis auflöste. Nachdem sie jeden Wächter einzeln entlassen und mit dem Fuß den letzten Rest des auf die Erde gezeichneten Kreises verwischt hatte - woraufhin die blaue Kugel und der goldene Ring verschwanden, ebenso wie alle außerweltlichen Wesen -, fragte ich: »Sind die Zusammenkünfte immer so kurz?«
    Mattheline antwortete rasch, noch ehe Noni etwas erwidern konnte: »Nein. Oft dauern sie bis zur Morgendämmerung an. Aber du hast den Pfad noch nicht eingeschlagen und kennst seine Geheimnisse nicht. Mit der Zeit, vielleicht in einem Jahr ...«
    »Das Ritual ihrer Weihe wird im kommenden Monat stattfinden«, bestimmte Noni mit einer Schärfe, die keinen Widerspruch duldete. Sie sah jetzt nicht mehr wie die Göttin, sondern wieder ganz wie meine Großmutter aus. Mattheline zog die

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