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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Überraschung aufschreien ließ.
    Dennoch konnte ich nicht wegschauen, schließlich wusste ich, dass in den Flammen Visionen und Bestimmung lagen. Noch während ich zurückschreckte, kroch ich zugleich näher an das Feuer heran und spähte aufmerksam in sein Innerstes.
    Ich sah Tausende winzig kleiner Männer und Frauen, geboren in tausend vergangenen und tausend noch kommenden Jahren und in allen Jahren dazwischen; ich sah Mohren und Juden, Christen, Heiden und Ungläubige, Leprakranke und Gesunde, Sklaven und Leibeigene, Kaufleute, Herren und Herrinnen - sie waren gleichermaßen in den Flammen gefangen und schrien vor Schmerzen. Viele riefen die Göttin an mit all ihren Namen, andere wiederum, die nicht dem Geschlecht angehörten, flehten ihre Götter an, oder die Menschheit selbst und beteten um ein Ende der Grausamkeiten. Alle standen lichterloh in Flammen und wirkten, als dauerte dieser Zustand ewig an. Verzweifelt rief ich den geheimen Namen der Göttin aus. Sie antwortete, und zwar mit einer plötzlichen Flut von Wärme in meinem Herzen, die ganz und gar nicht schmerzhaft war, sondern reiner Trost, reines Leben. Augenblicklich befand ich mich wieder in der Höhle, diesmal in angemessener Entfernung vom Feuer, das mir nicht mehr so bedrohlich und hell vorkam.
    Dennoch konnte ich mich nicht erheben, denn Justin lag auf mir, er hatte seinen Körper hart an meinen gepresst, seine Lippen strichen über meine Wange und meinen Hals, mit der Linken umfasste er meine Brust. Mit der rechten Hand fuhr er sanft, aber bestimmt zwischen meine Oberschenkel und schob sie auseinander. Auch er hatte die Grenzen der Wirklichkeit überschritten, um bei mir zu sein, seine Augen funkelten in dem dunklen Graugrün des sturmgepeitschten Meeres, seine Pupillen waren groß und unendlich schwarz. Wie ein Wilder sah er in jener Nacht aus, das Haar zerzaust und wirr, sein nackter Körper glänzte ölig, er war über und über mit der Erde der Höhle beschmiert. Die Muskeln in seinen Armen und seiner Brust erschienen mir schöner als jede Schnitzerei oder Skulptur von Künstlerhand. Ehrfürchtig hob ich die Hand, um sie zu berühren, und lachte leise, als sie dabei erbebten. Ich ließ die Fingerspitzen darüber hinweg gleiten, von der Schulter über die Brust bis zum Bauch.
    Vorsichtig glitten meine Finger weiter, ich war erfüllt von unschuldiger Neugier und dem plötzlichen, heftigen Wunsch, ihn tief in mir zu spüren, mit ihm eins zu sein, doch in mir sprach eine leise, stille Stimme: Die Zeit ist noch nicht gekommen ...
    Noch ehe ich etwas sagen konnte, hörte Justin auf, mich zu streicheln, und schob sich mit einem lauten Stöhnen in mich.
    Ich empfand einen flüchtigen Schmerz, dann durchströmte mich ein bisher unbekanntes Verlangen. Doch nicht nach Justin. Nicht nach Justin ... Die Zeit ist noch nicht gekommen.
    Eine unbeschreibliche Kraft bemächtigte sich meiner. Ein wenig widerwillig schob ich meinen Bräutigam beiseite, als wäre er eine lästige Fliege, und setzte mich auf. Keuchend fiel er zurück und prallte auf seine Hüfte. Auf seinem Gesicht spiegelten sich die widersprüchlichsten Gefühle: wilde Begierde, tiefe Verletztheit und schließlich unendlicher Kummer über die Erkenntnis, dass er seine geliebte Bernice nie in mir finden würde. Erneut überkam ihn die Begierde, und er umschlang mich. Ich entzog mich ihm und erklärte so sanft ich konnte: »Nein. Du bist nicht der Eine.«
    »Aber du musst«, entgegnete er, fast wehleidig wie ein Kind. »So beginnt man.«
    »Ich nicht.« Ich stand auf und stellte fest, dass ich wieder Kraft in den Gliedmaßen verspürte, Benommenheit und Unbehagen dagegen gänzlich verschwunden waren. Der arme Justin protestierte nicht länger, sondern ließ sich auf den Rücken fallen und starrte mit leerem Blick zur Höhlendecke hinauf.
    Leichtfüßig lief ich zum Eingang der Höhle. Vor dem Feuer fürchtete ich mich nicht mehr, sondern empfand nur Freude über seine Wärme. Ich stützte mich mit einer Hand an der Höhlenwand ab und spähte hinaus. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, der Wolkenschleier war aufgerissen und gab den Blick auf Sterne frei, die so stark funkelten, dass ihre Strahlen beinahe die Erde berührten. Der Mond war unglaublich groß - man konnte die schimmernden roten und blauen Adern deutlich erkennen -, er schien so hell, dass ich jeden zitternden, glänzenden Tropfen sehen konnte, der an den Blättern im Wald hing.
    Die Göttin war wieder bei mir.
    Während ich

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