Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
unangenehm, denn er sah gut aus, war jung, freundlich und seine wohlgeformten Muskeln an Brust und Schultern weckten entschieden unkindliche Gedanken in mir. Maman war zufrieden, da Justin und seine überlebenden Schwestern zu den Wohlhabendsten im Dorf gehörten, sodass sie im Alter gut versorgt wäre. Den ganzen Tag lang redete sie von nichts anderem als von der bevorstehenden Hochzeit. Doch seit Papas Tod hatte sich ein düsterer Wandel mit ihr vollzogen, sie verspürte keinen Appetit mehr, ihre Wangen waren eingefallen, und in ihrem Blick lag ein tiefes Misstrauen.
Respektvoll hörte ich mir ihre Ratschläge an, die sie mir allabendlich erteilte, wenn wir am warmen Herd saßen und an meiner Hochzeitsdecke arbeiteten. Maman weinte oft, da sie an die Decke dachte, die sie vor zwanzig Jahren angefertigt hatte, als sie mit Papa verlobt war. Doch meine Gedanken und Gefühle waren beherrscht von der bevorstehenden Weihe und der merkwürdigen Distanz, die sich zwischen mir, der Göttin und meiner ungewöhnlichen Gabe auftat.
Endlich war der Tag gekommen, vielmehr die Nacht - eine Nacht, in der bleierne Wolken den tiefschwarzen Nachthimmel überzogen hatten und warmer, gleichmäßiger Regen fiel. Als Noni und ich unsere Umhänge zubanden, während Maman tief und fest schlief, wurde ich plötzlich von Nervosität gepackt. Meine Finger zitterten, und ich empfand weder die Aufregung noch die Vorfreude, die ich erwartet hatte, sondern echte Furcht. Ich konnte Noni nicht in die Augen schauen, doch auch sie versuchte nicht, meinem Blick zu begegnen, und als wir aus unserer Kate in den Regen traten, wechselten wir kein Wort. Meine Großmutter hastete mit ungewöhnlicher Eile und Entschlossenheit voran, und in der feuchten Luft begann ich bald unter meinem Umhang und dem Kittel zu schwitzen, während ich mit ihr Schritt zu halten suchte. Unser Ziel war der Olivenhain, so dachte ich zumindest, bis Noni plötzlich nach links zu den Hügeln abbog, die im Osten des Dorfes lagen. Wir betraten den Wald, in dem sich Eichen und Nadelhölzer dicht drängten, rutschten hin und wieder auf dem glitschigen Teppich aus abgestorbenen Blättern aus und stiegen schließlich einen der langsam ansteigenden Hügel hinauf, wo die knorrigen Äste der uralten Bäume uns ein wenig vor dem Regen schützten. Plötzlich sprang hinter einem Baum eine Gestalt hervor, ein großer Mann, maskiert und in schwarzem Umhang. Er war im Dunkel der Nacht nicht mehr als eine Silhouette, wohingegen sein aufblitzendes Schwert klar zu erkennen war.
Ein Henkersknecht, dachte ich zu Tode erschrocken. Jetzt würde man uns inhaftieren und als Hexen verbrennen. Ich schrie auf und sank auf die Knie.
»Keinen Schritt weiter!«, befahl er. Zutiefst erleichtert erkannte ich die Stimme. Es war Justins, und doch auch wieder nicht, so wie schon die Stimme meiner Großmutter als Priesterin eindeutig ihre eigene gewesen war und dennoch fremd geklungen hatte. Eine kleinere, ebenfalls maskierte Gestalt trat hinter den Jungen. Mattheline, dachte ich. Die beiden vollziehen wohl ein uraltes Ritual. Doch als sie mir die Augen verbanden und ich spürte, wie die messerscharfe Spitze des Schwertes durch meinen Kittel drang und beinahe in die Haut unter meiner Brust ritzte, bekam ich es mit der Angst zu tun.
»Wehe dir«, drohte mir Justin, »wenn du die Namen auch nur eines deiner Brüder oder Schwestern an jene verrätst, die nicht der Göttin dienen, oder wenn du sie jemals verleugnest. Dann werden sich ihr ganzer Zorn und ihre Wut auf dich entladen, ebenso wie die unsere. Wir werden dich nicht nur in dieser Welt, sondern auch in allen anderen suchen, nicht nur in diesem Leben, sondern in allen, die noch folgen. Hast du verstanden?«
»Ja«, hauchte ich mit so schwacher Stimme, dass ich sie kaum als meine eigene erkannte.
»Schwörst du bei deinem Leben und deinen magischen Kräften, dass du der Göttin und dem Kreis treu sein wirst und nie, nicht einmal unter Androhung des Todes, die Namen deiner Brüder und Schwestern an jemanden verraten wirst, der nicht unserem Geschlecht angehört?«
»Bei meinem Leben und meinen magischen Kräften, ich schwöre.«
»Dann beginne«, schloss er, und die scharfe Spitze unter meinen Brüsten zog sich zurück.
Sie zerrten mich wieder auf die Beine, alles andere als sanft oder freundlich, und schoben mich weiter den Hügel hinauf. Ich zuckte zusammen, als ich auf einen herabgefallenen Tannenzapfen trat. Wir stiegen eine ganze Weile hinauf, bis ich
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