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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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leise lachte, erspähte ich in der Ferne einen kleinen weißen Lichtkreis, der sich zwischen den Bäumen bewegte. Er wuchs, während er näher kam, und als er mich schließlich erreichte, war er größer und breiter als ich. Das war das Licht, welches ich im Monat zuvor außerhalb des Kreises wahrgenommen hatte und das auf mich wartete. In der Hoffnung, die Göttin schenke mir jetzt eine Vision, kniete ich nieder ...
    ... doch aus dem Licht tauchte ein alter Mann auf, dessen grauer Bart und Locken ihm bis auf die Hüfte reichten. Vor mir stand der Jude, der mich gerettet hatte, gebeugt und gekleidet wie zu Lebzeiten, das Käppchen unter dem spitzen Hut verborgen, den gelben Filzfleck an die strenge Kaufmannstunika geheftet. Seine dunklen Augen mit dem altersgelben Weiß zeugten von solch unendlicher Liebe, dass mir die Tränen kamen.
    »Jakob«, begrüßte ich ihn und wunderte mich, woher ich wohl seinen Namen wusste, verstand zugleich aber auch, dass ich ihn schon immer gekannt hatte, so wie ich ihn seit jeher als Lehrer und Führer geschätzt und geliebt hatte, immer schon.
    »Herrin«, sagte er zu meiner Verblüffung, nahm meine Hände in die seinen und zog mich hoch. Dann kniete er selbst nieder und drückte seine Lippen auf meine Fingerknöchel, wie ein Ritter, der seiner Königin ewige Gefolgschaft schwört.
    »Nein!«, rief ich bestürzt. »Jakob, Ihr dürft nicht vor mir niederknien.« Als gehorchte er einem Befehl, stand er sofort auf und deutete hinter sich auf die große weiße Kugel, die noch immer in hellem Licht erstrahlte. Mein Blick folgte seiner Geste, und ich bemerkte direkt vor mir eine andere Gestalt, die vollkommen mit dem Licht verschmolzen schien. Es war wieder ein Mann, diesmal mit rotgoldenen Haaren wie poliertes Kupfer und zarten, wohlgeformten Gesichtszügen. Er trug Gewänder aus Samt und Seide wie ein Adliger, und an seiner Hüfte hing ein großes Schwert.
    Ich kannte ihn und zugleich kannte ich ihn nicht. Daher wandte ich mich an Jakob und fragte: »Wer ist das?«
    »Edouard. Einer von vielen«, erklärte Jakob. »Ihr werdet Euch bald wieder an uns erinnern.« Die Gestalt im Innern des Lichtkreises verwandelte sich in einen Ordensmann, dann in einen dritten, einen vierten, und schließlich wurde der Wechsel so schnell, dass mir schwindelte, bis ein uralter Stammesführer erschien, auf dessen Kopf eine primitive goldene Krone saß. »Und der?«, wollte ich wissen.
    »Einer aus der Legende«, erwiderte Jakob. »Sein Name bedeutet >Bär<.«
    Nun stand ein älterer Mann mit gestutztem Schnäuzer und Kinnbart vor mir, gekleidet in den schlichten Kettenpanzer eines Ritters aus dem vergangenen Jahrhundert. Über der Rüstung trug er eine lockere Tunika aus reinem Weiß, die mit einem blutroten Kreuz auf der Brust geschmückt war. Sein Gesicht war länglich und ernst, die Augenbrauen buschig und noch immer von grimmigem Schwarz, und ich konnte beobachten, wie Bart, Augenbrauen und Haare von Flammen verzehrt wurden.
    »Jacques«, flüsterte ich, als sich das vom Feuer verzehrte Gesicht des Ritters in das meines geliebten Juden auflöste. »Jakob ...« Ich schaute zu meinem Seelenbegleiter auf und hielt die Tränen zurück. »Jakob, wie oft müsst Ihr noch für mich zu Tode gemartert werden?«
    Daraufhin lächelte er nur und deutete mit einem Kopfnicken auf die Kugel aus weißem Licht, die noch immer vor uns schwebte.
    Ich schaute in den hellen Schein und sah ihn, sah das Gesicht meines Geliebten, des Mannes, den ich immer geliebt habe und immer lieben werde. Bei seinem Anblick überkam mich ein schier unerträgliches Verlangen, so stark, wie ich es bisher nicht gekannt und doch immer schon besessen hatte. Es war ein körperlicher Schmerz, eine Begierde, die meinen Leib verzehrte wie das Feuer, doch mehr als das war es ein echtes Verlangen tief in meiner Seele. In der Hoffnung, es befriedigen zu können, hatte ich zugelassen, dass man mich erst mit Guillaume verlobte und dann mit Justin - ich war zweimal enttäuscht worden. Wegen dieses Mannes hatte ich Justin zur Seite gestoßen und war erleichtert gewesen, als der arme Guillaume starb; seinetwegen würde ich nicht aufhören zu suchen, bis ich ihn in diesem Leben wieder gefunden hätte. Denn ohne ihn würden ich und meine Bestimmung nie vollkommen sein, ohne ihn würden ich und unser Geschlecht die Flammen nicht überleben. »Die Zeit wird kommen für Magie und Gesänge«, sagte Jakob, »und für Talismane.«
    Beim letzten Wort warf er mir einen

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