Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Vaters Antonio. Es war Mittag; draußen wehte eine kühle Brise. Das Zimmer meines Vaters war düster und vom offenen Feuer überheizt; die Luft stank nach Unaussprechlichem.
Antonio lag nackt unter einer verschlissenen Decke auf dem Bett, das feucht war vom Säubern. Seine Augen waren geschlossen; im Dämmerlicht, das durch die halb geschlossenen Fensterläden fiel, sah er grauweiß aus. Mir war zuvor nicht aufgefallen, wie dünn er geworden war; aus seinem bloßen Oberkörper standen die Rippen so deutlich hervor, dass ich sie zählen konnte. Sein Gesicht sah aus, als schmelze die Haut von den Knochen. Ich trat ans Bett, und er schlug die Augen auf. Sie glitzerten, das Weiß war gelblich, und sein Blick irrte umher. »Lisa«, flüsterte er. Sein Atem roch abstoßend süßlich.
»Vater«, antwortete ich. Loretta brachte einen Stuhl. Ich bedankte mich bei ihr und bat sie zu gehen, Zalumma hingegen sollte bleiben. Dann setzte ich mich und nahm die Hand meines Vaters; er war zu schwach, um meinen Händedruck zu erwidern.
Sein Atem ging rasch und flach. »Wie sehr du deiner Mutter gleichst . sogar noch schöner.« Ich wollte ihm schon widersprechen, doch er runzelte die Stirn. »Ja, noch schöner .« Sein Blick irrte durch den Raum. »Ist Matteo hier?«
Gewissensbisse nagten an mir; wie hatte ich ihm seine einzige Freude, seinen Enkel, vorenthalten können? »Verzeih«, sagte ich, »aber er schläft gerade.«
»Gut. Hier ist es auch zu schrecklich für ein Kind.«
Ich schaute Zalumma nicht an. Den Blick fest auf meinen Vater gerichtet, sagte ich: »Dann haben sie dich also vergiftet.«
»Ja, es ging schneller, als ich dachte . « Er blinzelte. »Ich kann dich kaum sehen. Die Schatten .« Sein Gesicht verzog sich unter einem schmerzhaften Krampf, und als er sich wieder erholt hatte, schaute er mich kleinlaut an. »Ich wollte uns aus Florenz hinausbringen. Ich hatte einen Kontaktmann, von dem ich dachte, er könnte uns helfen . Sie boten ihm mehr Geld als ich. Verzeih. Nicht einmal das kann ich dir geben .«
Das Sprechen hatte ihn geschwächt; keuchend schloss er die Augen.
»Du kannst mir etwas anderes geben«, sagte ich. »Die Wahrheit.«
Er öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen und sah mich schräg an.
»Ich weiß, dass du Giuliano den Älteren umgebracht hast«, sagte ich. Zalumma hinter mir machte ihrer Überraschung und Wut Luft; mein Vater versuchte, Worte der Entschuldigung zu formulieren. »Bitte - reg dich nicht auf, ich bitte dich nicht um eine Erklärung. Und ich weiß, dass du Pico umgebracht hast. Ich weiß, dass du alles getan hast, worum Francesco dich bat, damit ich sicher war. Aber wir sind mit den Geheimnissen noch nicht fertig. Du hast mir noch mehr zu sagen. Über meinen ersten Gemahl. Über meinen einzigen Gemahl.«
Sein Gesicht verzog sich; er stieß ein leises, schreckliches Geräusch aus, das wie Schluchzen klang. »Ach, Tochter«, sagte er. »Es hat mir das Herz gebrochen, so grausam zu lügen.«
»Dann stimmt es also.« Ich schloss die Augen, wollte fluchen, meine Wut, meine Freude und meinen Kummer hinausschreien, brachte aber keinen Laut hervor. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah das ganze Zimmer anders aus, verändert.
»Wenn ich es dir gesagt hätte«, flüsterte er, »hättest du versucht, zu ihm zu gehen. Und sie hätten dich umgebracht. Sie hätten den Kleinen umgebracht. Und wenn Giu-liano versucht hätte, zu dir zu kommen, hätten sie ihn getötet.«
» Giuliano«, flüsterte Zalumma. Ich drehte mich zu ihr um. »Ich wusste es nicht«, erklärte sie. »Ich war mir nie sicher. Auf dem Markt hat einmal jemand etwas gesagt, weshalb ich dachte, vielleicht ... Dann kam ich aber zu dem Schluss, er sei verrückt. Nur wenige Menschen in Florenz haben je den Namen Medici in den Mund genommen, es sei denn, um sie zu kritisieren. Niemand hat je in meiner oder Eurer Gegenwart etwas zu sagen gewagt, weil Ihr Francesco geheiratet habt. Und Francesco hat allen anderen Dienern verboten, Giulianos Namen auszusprechen, um Euch nicht aufzuregen.«
Mir wurde klar, dass mein Leben mit Francesco innerhalb fester Grenzen verlaufen war: Ich sah die Dienerschaft, die Gäste und Geschäftspartner meines Gemahls, das Innere von Kirchen. Und niemand hatte je mit mir über Giuliano gesprochen. Niemand außer Francesco hatte länger mit mir über die Medici geredet.
Ich schaute wieder auf meinen Vater und konnte den Schmerz in meiner Stimme nicht verhehlen. »Warum ist er nicht zu mir
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