Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Sie hängte einen zweiten Talisman an die Tür meiner Mutter. Er sollte meine Mutter vermutlich in ihrem Zimmer einsperren. Als andere Dienerinnen ihr davon berichteten, weinte meine Mutter. Sie war jedoch zu freundlich und zu beschämt, um Evangelia darauf anzusprechen.
Ich nahm die Sache selbst in die Hand, denn ich konnte nicht zulassen, dass jemand meine Mutter zum Weinen brachte. Ich schlich mich heimlich ins Zimmer meiner Mutter und nahm ihren kostbarsten Ring, einen großen Rubin, eingelassen in einen fein gearbeiteten Reif aus Gold, ein Hochzeitsgeschenk von meinem Vater.
Ich versteckte ihn zwischen Evangelias Habseligkeiten und wartete ab. Es kam, wie vorauszusehen war: Der Ring wurde gefunden - zum Entsetzen aller, im Besonderen jedoch Evangelias. Mein Vater entließ sie auf der Stelle.
Zunächst empfand ich eine gewisse Befriedigung: Der Gerechtigkeit war Genüge getan, und meine Mutter musste nicht mehr vor Scham weinen. Aber nach ein paar Tagen begann mich mein Gewissen zu plagen. In Florenz hatte sich Evangelias angebliches Vergehen herumgesprochen, und sie war verwitwet und hatte eine kleine Tochter. Keine Familie würde sie einstellen. Wie sollte sie überleben?
Ich beichtete meine Sünde dem Priester und Gott: Beides verschaffte mir jedoch keine Erleichterung. Schließlich ging ich zu meiner Mutter und gestand ihr unter Tränen die Wahrheit. Sie war sehr ernst und sagte mir geradeheraus, was ich bereits wusste - dass ich das Leben einer Frau zerstört hatte. Zu meiner Erleichterung teilte sie meinem Vater nicht die volle Wahrheit mit, nur dass uns ein schrecklicher Fehler unterlaufen sei. Sie bat ihn, Evangelia zu suchen und zurückzubringen, um ihren Namen vom Makel zu befreien.
Doch mein Vater bemühte sich vergebens. Evangelia hatte Florenz bereits verlassen, da sie keine Arbeit finden konnte.
Seither lebte ich mit dem Schuldgefühl weiter. Und als ich an jenem Abend meine schlafende Mutter beobachtete, fielen mir all die wütenden Ausbrüche meiner Jugend ein, jeder Racheakt, den ich begangen hatte. Deren gab es viele, und ich betete zu Gott - dem Gott, der meine Mutter liebte und nicht wollte, dass sie Anfälle erlitt -, mich von meinem entsetzlich aufbrausenden Temperament zu erlösen. Meine Augen füllten sich mit Tränen; ich kannte meinen Vater, und ich trug jedes Mal zum Leiden meiner Mutter bei, wenn ich mich mit ihm zankte.
Als mir die erste Träne über die Wange kullerte, regte sich meine Mutter im Schlaf und murmelte etwas Unverständliches. Sanft legte ich eine Hand auf ihren Arm. »Ist schon gut. Ich bin hier.«
In dem Moment, als ich die Worte aussprach, wurde leise die Tür geöffnet. Ich schaute auf und erblickte Zalum-ma, einen Kelch in der Hand. Sie hatte ihre Kapuze und den Schal abgenommen und ihr wirres Haar geglättet, doch ungezähmte Locken umgaben ihr bleiches Gesicht wie ein Heiligenschein.
»Ich habe einen Arzneitrank mitgebracht«, sagte sie leise. »Wenn deine Mutter aufwacht, wird sie damit die Nacht über durchschlafen.«
Ich nickte und versuchte unauffällig meine tränenfeuchte Wange abzuwischen, in der Hoffnung, Zalumma würde es nicht bemerken, während sie den Kelch neben das Bett meiner Mutter stellte.
Natürlich entging ihr nichts, auch wenn sie mir den Rücken zukehrte. Sie wandte sich zu mir um und sagte noch immer mit ruhiger Stimme: »Ihr dürft nicht weinen.«
»Aber es ist meine Schuld.«
Zalumma brauste auf. »Es ist nicht Eure Schuld. Das war es nie.« Sie seufzte verbittert, als sie auf ihre schlafende Herrin blickte. »Was der Priester im Duomo gesagt hat .«
Ich beugte mich vor, begierig darauf, ihre Meinung zu hören. »Ja?«
»Es ist eine Gemeinheit. Und Unwissen, versteht Ihr? Eure Mutter ist die wahrhaftigste Christin, die ich kenne.« Sie hielt kurz inne. »Als ich noch ein sehr junges Mädchen war .«
»Als du in den Bergen gelebt hast?«
»Ja, als ich noch in den Bergen gelebt habe. Da hatte ich einen Bruder. Er stand mir näher als ein gewöhnlicher Bruder, er war mein Zwilling.« Bei der Erinnerung an ihn musste sie unwillkürlich lächeln. »Er war halsstarrig und hatte nur Unfug im Sinn, weshalb unsere Mutter immer die Hände rang. Und ich habe ihm stets geholfen.« Das schiefe Lächeln verblasste. »Eines Tages kletterte er auf einen sehr hohen Baum. Er wolle den Himmel erreichen, sagte er. Ich folgte ihm, so weit ich konnte, doch er kletterte so hoch hinauf, dass ich Angst bekam und anhielt. Er kroch auf einen Ast .«
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