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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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gebeten hatte, die Skulptur von Giuliano de' Medici nach dessen Tod fertigzustellen: Seine Erinnerung an meine Gesichtszüge war erstaunlich. Aus der im Innenhof angefertigten spärlichen Skizze hatte er eine klare, feine Silberstiftzeichnung auf cremefarbenem Papier erstellt, eine bemerkenswerte Wiedergabe meines Gesichts, des Halses, der Schultern - es schien wahrhaftiger, geweihter, tiefgründiger als jedes Bild von mir im Spiegel. Er hatte mich nicht in der Pose eingefangen, um die er mich gebeten hatte, vielmehr in dem Augenblick davor, als ich Giulianos Terrakottabüste betrachtet und dann den Künstler über die Schulter angeschaut hatte. Nur mein Gesicht in Dreiviertelprofil war ausgearbeitet und sorgfältig schattiert; Haare und Schultern waren durch ein paar rasche Linien angedeutet. Auf meinem Hinterkopf war eine vage Struktur zu erkennen, die ein Haarnetz oder ein Glorienschein hätte sein können. Meine Augenlider, das hervorstehende Kinn, die Stelle auf meinen Wangen direkt unter meinen Augen waren durch vorsichtiges Auftragen von Bleiweiß hervorgehoben.
    Meine Mundwinkel waren kaum merklich gehoben; kein Lächeln, vielmehr das Versprechen eines solchen. Darin spiegelte sich die Güte wider, die ich in den Augen des verstorbenen Giuliano gesehen hatte; ich hätte ebenso gut ein Engel sein können.
    Verwirrt betrachtete ich die Zeichnung eine Weile, bevor ich meine Aufmerksamkeit schließlich dem anderen Blatt zuwandte.
    Es handelte sich um eine rascher hingeworfene, gröbere Skizze, die obendrein mein Erinnerungsvermögen ansprach; ich hatte das Bild schon einmal gesehen, und es dauerte eine Zeit lang, bis mir einfiel, dass ich es zusammen mit meiner Mutter auf einer Wand in der Nähe des Palazzo della Signoria gesehen hatte.
    Es war das Bildnis des Mannes, der an einer Schlinge baumelte, das Haupt geneigt, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Darunter hatte der Künstler vermerkt: »Die Hinrichtung Bernardo Baroncellis«.
    Es war eine grauenvolle Skizze, die man einem jungen Mädchen einfach nicht schickte; ich konnte mir nicht vorstellen, was Leonardo dazu bewogen hatte. Und was hatte Baroncelli mit mir zu tun?
    Auch der Brief selbst stürzte mich erneut in Verwirrung. Ich freue mich, Euch zu sehen, mehr als ich sagen kann ... War das eine indirekte Liebeserklärung? Allerdings hatte er den Brief ungewöhnlich beiläufig mit Euer guter Freund unterzeichnet. Freund, mehr nicht. Zugleich erregte mich der Brief: Lorenzos Auftrag war demnach ernst gemeint und nicht nur müßiges Gerede, das allein darauf abzielte, mir zu schmeicheln.
    Ich erwartete also jeden Abend voller Ungeduld meinen Vater in der Hoffnung auf ein Wort über das Porträt oder, noch wichtiger, dass er eine Einladung nach Castello erwähnte.
    Doch jeden Abend wurde ich aufs Neue enttäuscht. Mein Vater sprach die Angelegenheit nicht an und verneinte jedes Mal in knurrigem Ton, wenn ich es wagte nachzufragen, ob er etwas von Ser Lorenzo über eine mögliche eheliche Verbindung gehört habe.
    Als ich mich nach einem weiteren entmutigenden Abendessen in mein Schlafgemach zurückzog, fing Za-lumma mich jedoch mit einer Lampe in der Hand ab und schloss die Tür hinter uns.
    »Fragt mich nicht, woher ich ihn habe; je weniger Ihr wisst, umso besser«, sagte sie und zog einen versiegelten Brief aus ihrem Mieder. Ich nahm ihn an mich in dem Glauben, er sei von Lorenzo. In den Siegellack war das Wappen der Medici eingeprägt, der Inhalt aber war alles andere als erwartet. Im Schein von Zalummas Lampe las ich:
    Hochverehrte Madonna Lisa,
    verzeiht mir die Freiheit, die ich mir herausnahm, als Ihr vor kurzem zu Besuch im Palazzo meines Vater wart; und verzeiht mir nun die Freiheit, Euch diesen Brief zu schreiben. Ich bin zu kühn, ich weiß, doch mein Mut entspringt dem Wunsch, Euch wiederzusehen. Vater ist sehr krank. Dennoch hat er es mir freigestellt, Euch mit einer Eskorte seiner Wahl und einer Begleitung, die Euer Vater aussucht, auf eine Fahrt zu unserer Villa in Castello mitzunehmen. Noch heute wird mein Bruder Piero einen Brief an Ser Antonio schreiben und ihn um Erlaubnis bitten, dass Ihr uns begleiten dürft. Vorfreude erfüllt mich bei der Aussicht, Euch wiederzusehen. Bis dahin verbleibe ich Euer gehorsamer Diener Giuliano de' Medici
27
    In den nächsten Tagen schob ich alle Gedanken an Leonardo da Vinci beiseite - obwohl ich im Stillen an der Zeichnung von Bernardo Baroncelli rätselte. Dumm und unerfahren, wie ich war, konzentrierte

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