Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
sollte. Also schwärmte ich heimlich weiter für den Sänger Morten Harket, den Frontmann von a-ha. Vor dem Einschlafen träumte ich davon, dass ich während eines Konzerts von ihm entdeckt und mit der Band auf Tournee gehen würde. Sex kam in diesem Traum nicht vor.
Diese Fluchten waren notwendig. Zwar wusste ich, wie man sich in der Nähe von Erwachsenen zu verhalten hatte â natürlich artig â, ich hatte aber keinen Schimmer, wie ich mich den Jugendlichen gegenüber verhalten sollte, mit denen ich nicht nur zur Schule ging, sondern auch zusammenlebte. Ich fühlte mich, als käme ich von einem anderen Stern. Im ersten halben Jahr schrieb ich meinem Vater flehentliche Briefe: »Bitte, Papa, bitte lass mich wieder nach Hause kommen!!!« Da er mich aber â ohne es zu begründen â nicht von der Schule nahm, stellte ich meine Appelle irgendwann ein.
Sieben Jahre war ich im Internat, und ich wurde bis zum letzten Tag verspottet, geärgert und gedemütigt. Einer meiner Spitznamen â einer der harmlosen â war »Matratze«. Es hieÃ: »Die macht es mit jedem« â was nicht stimmte. An das Mobbing gewöhnte ich mich, aber es traf mich zutiefst, dass ich als Nutte und sehr viel Schlimmeres beschimpft wurde; eigentlich war es nur ein Ausdruck dafür, dass man mich mit dem Stempel »AuÃenseiterin« versehen hatte.
Im Internat war es wichtig, wie man aussah. In den Jahren zwischen vierzehn und neunzehn lief ich so viel auf Stöckelschuhen herum wie nie wieder. Man konnte sich noch Respekt verdienen, wenn man als Mädchen auÃergewöhnlich sportlich war â aber Klugheit, Witz oder Charme zählten wenig. Im Internat lernte ich auch, was Doppelmoral bedeutete. Die Jungen durften mit so vielen Mädchen schlafen, wie sie wollten â es erhöhte nur ihr Ansehen als Frauenschwarm. Die Mädchen jedoch waren schnell verschrien, wenn sie es ihnen gleichtaten. Ich wurde grundsätzlich miesgemacht, doch nie habe ich wirklich begriffen, warum es so war, denn nur wenige Jungen interessierten sich überhaupt für mich. Doch es war leicht, mich fertigzumachen. Selbstbewusstsein hatte ich keines, ich war unsicher und gehemmt, fühlte mich dick, hässlich und dumm. Kein Wunder: Permanent fing ich Kommentare wie »Boah, hast du einen fetten Arsch« oder »Hallo, Hakennase« oder »Du bist dumm wie Brot« ein. Meine Mitschülerinnen fand ich alle toller als mich selbst. Auf viele war ich neidisch und eifersüchtig, fühlte mich ihnen unterlegen. Ich kam mir vor wie Aschenputtel neben den Stiefschwestern.
Es war alles quälend. Nicht nur das Leben im Internat, sondern auch das zu Hause. Für meinen Vater, der ebenfalls stark aufs ÃuÃere achtete, sollte ich vorzeigbar sein und attraktiv. So hat mich meine Teenagerzeit in meiner Weiblichkeit maÃgeblich geprägt. Dabei legte mein Vater den Grundstock. Für ihn musste ich unbedingt gut aussehen, das war für ihn das Allerwichtigste. Ständig mäkelte er an meinem Aussehen herum: »Du machst dir jetzt sofort einen Zopf, deine Haare sehen liederlich aus!«
Es dauerte Jahre, bis er mir eine Jeans kaufte, »Nietenhosen« fand er nicht schick genug. Wäre es nach ihm gegangen, sollte ich zum Wiener Debütantinnen-Ball in einem Kleid, das wie ein Sahnebaiser aussah â Gott sei Dank konnte ich mich dagegen erfolgreich wehren. Für meine Figur war seine Freundin mit ihrer KleidergröÃe zweiunddreiÃig bei einer GröÃe von einem Meter sechzig der MaÃstab. Ich war ein Meter vierundsiebzig, wog sechzig Kilo, trug normalerweise achtunddreiÃig â und liebte wie mein Vater gutes Essen. Obwohl meist er in den Ferien zunahm und nicht ich, motzte er mich ständig an. »Friss nicht so viel, du wirst zu fett«, war sein Standardsatz.
Einmal waren wir auf einem Kreuzfahrtschiff, ein Urlaub à la Das Traumschiff . Das war damals noch elitär. Spätabends saÃen wir meist noch mit einer Schauspielerin und ihrem Mann, die wir an Bord kennengelernt hatten, in der Bar. Das Schiff schaukelte leicht, das Licht war gedimmt, wir hatten auf goldenen Plüschsesseln Platz genommen, die auf dem Boden festgeschraubt waren, am Rand einer kleinen Tanzfläche. Männer in weiÃen Dinnerjacketts schoben Frauen in Taftkleidern über den dunklen Boden. Jeder aus unserer Runde bestellte noch einen Digestif. Wie immer
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