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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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und einen umwerfenden Charme. Sie war die erste Person im Internat, die mich wirklich mochte. Beide lasen wir gern, zusammen gingen wir reiten, und beim Duschen sangen wir laut unsere Lieblingssongs. An den Wochenenden war ich oft bei ihr zu Hause, eingeladen von ihrer sehr netten Familie. Ich genoss es, endlich irgendwo ein wenig dazuzugehören. Chiaras jüngerer Bruder neckte mich oft: »Ah, da kommt ja meine zweite Schwester.« Mein Herz ging jedes Mal auf, wenn er das sagte. Fleißig lernte ich italienische Vokabeln und war stolz, als ich beim Essen »Buon appetito!« mit der richtigen Aussprache herausbrachte. In dieser Familie wurde ich so herzlich aufgenommen, da konnte ich im Internat darauf pfeifen, was die anderen von mir dachten. Ich gehörte sowieso nicht dazu, da konnte ich machen, was ich wollte – und endlich auch mal ein bisschen Spaß haben.
    Jetzt knutschte ich auf jeder Party, aber ohne schlechtes Gewissen; ich feierte, dass es krachte, tanzte mir die Füße zu »Relight My Fire« von Dan Hartman wund und schwänzte immer öfter den Unterricht. Das Thema »Beliebt sein« konnte ich dank meiner Freundschaft zu Chiara also inzwischen ignorieren. Es folgte jedoch das nächste Drama: die Liebe. Meine ersten Beziehungen zu Jungen waren allesamt ein Desaster. Die, die ich auswählte, stammten auch nicht gerade aus intakten Familien. Vermutlich suchten sie ebenso wie ich einfach nur jemanden, der sie lieb hatte. Ich jedenfalls war mit den ersten sexuellen Erfahrungen völlig überfordert – und sehnte mich die meiste Zeit einfach nur danach, dass mich jemand in den Arm nahm. Es war bei mir wie bei so vielen jungen Frauen: Ich suchte Liebe und gab Sex – und bekam auch nur Sex zurück. Es schien die einzige Möglichkeit zu sein, wenigstens ein Fitzelchen Zuneigung zu erhalten.
    Ich litt furchtbar darunter. Szenen wie diese waren typisch: Nachmittags verließ ich eines der Jungenhäuser, ich hatte dort meinen Freund besucht – es war eine demütigende On-off-Beziehung. Vor der Tür saß die »In-Clique«. Für mich ein täglicher Spießrutenlauf: Ich musste durch diese Gruppe von Schülern gehen. Einer der Typen blickte mich ernst an und sagte: »Du hast da was im Mundwinkel.« Reflexartig wischte ich mir über die Lippen. Alle grölten. Nein, ich hatte meinem Freund gerade keinen Blowjob beschert, aber es traf mich bis ins Mark, dass es mir mal wieder unterstellt wurde.
    Erst in der dreizehnten Klasse hatte ich einen festen Partner, der mich gut behandelte. Björn und ich hatten dieselben Leistungskurse belegt, und er war zum Glück überhaupt kein Macho, was auch einer der entscheidenden Gründe war, dass ich mich in ihn verliebte. Wir kamen ein halbes Jahr vor unserem Abitur zusammen. Björn war so groß wie ich, durchtrainiert und hatte braune kurze Haare und braune Augen. Er erinnerte mich ein bisschen an Patrick Swayze aus dem Film Dirty Dancing . Wir trainierten im selben Pferdestall, und an einem Sonntag sah ich ihm bei einem Turnier zu. Als er mit seinem Schimmel Let’s Fly jubelnd aus der Halle in den Stall ritt, weil er das schwere L-Springen gewonnen hatte, sah ich meine Chance gekommen. Bisher waren wir nur gute Freunde gewesen. Jetzt fiel ich ihm um den Hals, nachdem er vom Wallach abgestiegen war, gratulierte ihm und gab ihm – todesmutig – einen Kuss auf den Mund. Er stutzte, sah mich an, lächelte und sagte: »Was war das denn?« Dann küsste er mich wieder.
    Nach dem Abitur wäre ich gern nach Hamburg gezogen, Björn und Chiara wollten dort studieren. Doch mein Vater wollte mir keine eigene Wohnung bezahlen, ich sollte wieder bei ihm einziehen. Ich wusste, dass es nicht funktionieren würde, wenn ich das tat. Einen Vorteil hatte die Internatszeit nämlich gehabt: Dort war ich frei gewesen. Zwar war ich ohne Ende gehänselt und verspottet worden, aber wenigstens konnte ich anziehen, was ich wollte, essen, was ich wollte, und mit denen befreundet sein, die ich nett fand. Deshalb entschied ich mich, in die Wohnung meines Vaters nach München zu ziehen. Ich dachte, dort zu wohnen, weit weg von ihm, würde mein Leben leichter machen. Das war ein Irrtum.
    Depressionen im Mädchenalter
    Dr. Carola Bindt iststellvertretende ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Fachärztin

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