Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
weil er mir peinlich war. In unserer Familie gibt es etliche unerfreuliche Details, nicht nur die, die ich genannt habe, und es traten immer mal wieder Menschen in Erscheinung, die mit dem Finger auf mich und meine Familie zeigten und schlecht über uns redeten. Es war mir wichtig, mich von meinem Vater loszusagen, zu zeigen, dass ich nur ich bin und nicht ein Teil von ihm. Ich wünschte mir so sehr, nicht mehr ausgelacht und verurteilt zu werden.
Die ganzen Jahre, während der Ausbildung in der Bank und während des Studiums, war ich krank. Richtig bewusst war mir das noch nicht, aber ich fühlte, dass mit mir einiges nicht stimmte.
»Komm, wir nehmen das Fahrrad und setzen uns an die Alster oder gehen Entengucken in Planten un Blomen « , schlug Björn an Sommerabenden oft vor.
»Fahr du ruhig ans Wasser oder in den Park, ich leg mich hin«, antwortete ich meistens. Wir waren inzwischen zusammengezogen, und Björn wollte in der Freizeit immer gern etwas mit mir unternehmen. Ich wollte mir nur die Decke über den Kopf ziehen. Schon während der Unizeit litt ich so stark unter meinen Depressionen, dass ich Medikamente und Psychotherapie bekam.
In diesen Jahren war ich zudem sehr zwanghaft. Jede Nacht, bevor ich mich schlafen legte, ging ich in die Küche und kontrollierte, ob ich den Herd ausgeschaltet hatte. Nie war ich mir dessen sicher. Also schaltete ich ihn an und wieder aus â und an und aus. Minutenlang drehte ich an den weiÃen Knöpfen. Irgendwann legte ich mich zurück ins Bett, doch meist fand ich keine Ruhe. Dann stand ich erneut auf, lief in den Flur â er war lang und schmal und kam mir vor wie ein immer enger werdender Tunnel â und prüfte, ob die Haustür abgeschlossen war. Den Schlüssel drehte ich bis zum Anschlag und rüttelte an der Kette. Mehrmals, um auch ja ganz sicher sein zu können, dass niemand reinkommen konnte. Meine Angst vor Einbrechern war so groÃ, dass ich jeden Abend die Tür zusätzlich mit einem schweren grünen Wohnzimmersessel verbarrikadierte. Wie angespannt ich war, spiegelte auch mein Körper wider. Erst war ich übergewichtig, schlieÃlich nahm ich radikal ab. Eine Zeit lang war ich extrem schlank â dank mehrfacher Kohlsuppen-Diäten, aber auch, weil ich fünf Stunden pro Woche zum Sport ging.
»Wo bist du noch mal heute Abend?«, fragte Björn häufig.
»Donnerstags ist Ju-Jutsu, das könntest du dir endlich mal merken«, antwortete ich.
»Bei dir verliere ich einfach den Ãberblick.«
»Die Rückengymnastik ist mittwochs, und am Wochenende laufen wir ja zusammen, so schwer ist es doch gar nicht.«
Dass mein Sport etwas Zwanghaftes hatte, fiel weder Björn noch mir auf. Ich kaufte mir eine Körperfettwaage und führte täglich Protokoll über mein Gewicht, auf hundert Gramm genau. Ganz eindeutig war ich essgestört.
Zwischen zwanzig und dreiÃig machte ich drei Therapien, und alle halfen â jedenfalls ein wenig. Aber nicht genug. Nur wäre ich damals nie auf den Gedanken gekommen, zu sagen, irgendwie reichen sie nicht, vielleicht sind sie nicht die richtigen Behandlungsformen für mich. Ich war so dankbar, dass ich überhaupt Hilfe bekam. Stets dachte ich mit schlechtem Gewissen: Wenn es mir trotz Therapie nicht gut geht, kann das nur meine Schuld sein. Bestimmt mache ich etwas falsch, bin nicht fleiÃig genug dabei, strenge mich zu wenig an.
Hinzu kam, dass ich mich mit Psychotherapien überhaupt nicht auskannte. Ãber den Unterschied zwischen den einzelnen Verfahren wusste ich nichts. Erst mit Ende zwanzig, mehr von meiner Situation begreifend, kaufte ich mir einen Ratgeber über Depressionen. In vielem fand ich mich wieder: das beständige Gefühl von Trauer und Niedergeschlagenheit, die permanente Erschöpfung, die Ãberforderung. In meinem Tagebuch aus dieser Zeit steht: »Was für eine schreckliche, intensive, stressgeplagte Woche! Björns und mein Motto heiÃt nur noch: durchhalten. Jetzt, am Samstag, merke ich, wie fertig, ausgelaugt und müde wir beide sind. Welchen Preis werden wir bezahlen? Es ist schönster Sommer, und mein Kopf ist voll von Geldbeträgen, Ãngsten und Schuldgefühlen â wieder nichts für die Uni getan. Dabei möchte ich einfach nur fröhlich sein und mit Björn Spaà haben.«
Wenigstens schaffte ich es damals, mich ein wenig von dem Frauenbild meines
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