Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
stundenlang im Internet und schaffte gerade ein Minimum meiner Arbeit. Jedes Mal, wenn ein Kollege den Kopf durch die Tür steckte und rief: »Konferenz! Hast du die Unterlagen über die Zwölfer?«, erschrak ich. »Geh schon vor, ich komme gleich nach«, sagte ich dann. Als er fort war, durchwühlte ich hektisch meinen Schreibtisch. Bei welcher Regatta sollten diese schönen, klassischen Holzjachten mitsegeln?
Zu dieser Zeit bekam ich Antidepressiva verschrieben, doch es dauerte dieses Mal Monate, bis das richtige Medikament gefunden war (siehe Seite 116ff.). Mich machte das fast wahnsinnig. Ich musste arbeiten, doch es strengte mich so an, als sollte ich einen Marathon nach dem anderen laufen. Prompt erhielt ich eine Ermahnung von meinem Chef, weil ich die Abgabefristen für meine Artikel nicht einhielt.
Meine damalige Therapeutin empfahl mir einen Spezialisten, Dr. Levi, der auch Depressive, die so schwer krank sind, dass sie über einen Selbstmord nachdenken, ambulant behandelte. Suizidgefährdete bekommen nur selten eine ambulante Therapie. Den meisten Therapeuten ist das Risiko zu groÃ. Als nach zwei Monaten endlich die dritten Antidepressiva wirkten, bekam ich wieder Antrieb â jedenfalls so viel, dass ich einigermaÃen arbeiten konnte. Eine Zeit lang nahm ich auch Beruhigungsmittel, weil die Leere in suizidale Verzweiflung umschlug. Oft ging ich über die StraÃe und dachte: Wenn mich doch nur ein Auto überfahren würde. Dann wäre endlich alles vorbei.
Es wurde Sommer. Bevor ich nach Norwegen fuhr, verbrachte ich in diesem Zustand beruflich viele Tage auf der Ostsee. Ausgerechnet in diesem Sommer segelte ich so viel wie noch nie. Und war auf einmal nicht mehr begeistert davon, dass mein Traum Wirklichkeit wurde. Von auÃen betrachtet war die Welt sehr schön. Aber gefühlt habe ich gar nichts. Keine Freude â nicht einmal mehr Furcht. So gern ich segle, ich bin auf einem Boot normalerweise eher ein Angsthase. Nur in diesem Sommer war ich es plötzlich nicht mehr. Stattdessen war ich todesmutig. Auf einem ehemaligen Arbeitsschiff kletterte ich die Takelage hoch. Unten, an Deck, standen besorgt aussehende Männer und winkten mir, ich solle doch zurückkommen. Ãber mir strahlte der blaue Himmel. Dazwischen schaukelte ich. Und kam mir vor wie ein Zombie. Mit einer nach auÃen gut funktionierenden Hülle, aber innerlich tot. Wochen später segelte ich mit einem Kollegen in der Flensburger Förde auf einer kleinen Jolle. Wir saÃen oben auf der Kante, als er sagte: »Nimm du mal die Pinne, ich kümmere mich um die Fock, da klemmt doch was.« Schon turnte er nach vorn, um nach dem vorderen Segel zu sehen.
Der Wind drückte das Schiff heftig zur Seite. »Warschau, Bö«, rief ich ihm hinterher und versuchte, gleichzeitig zu steuern und mich festzuhalten. Ich hatte das Ruder in der Hand. Früher hätte ich mich das nie getraut. Die untere Kante schwamm im Wasser, das Boot lag so schräg, dass ich dachte, gleich kippt es. Weiter überlegte ich: Wir könnten wirklich kentern. Dabei könnte ich stürzen â und sterben. Die Vorstellung erschreckte mich nicht. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: Na und, dann sterbe ich eben.
Als ich wieder zu Hause war, blieb mir auch da alles egal. Nach fünfzehn Jahren setzte ich von heute auf morgen die Pille ab. Die Packung war zu Ende, und ich konnte mich nicht aufraffen, zum Frauenarzt zu gehen. Teilnahmslos registrierte ich, dass das vielleicht ungesund war. Doch ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass das wichtig sei. Nichts berührte mich mehr. Antrieb hatte ich zwar wieder, dank der Tabletten. Deshalb versuchte ich zumindest, am Leben teilzuhaben.
In diesem Sommer traf ich mich mit Freunden im Park, wo wir grillten, oder im Freibad zum Sonnenbaden. Rief Birgit an und fragte: »Kommst du mit zum Public Viewing?«, antwortete ich: »Na klar.« Ich zog mich in den Farben Rot, Gelb, Schwarz an und nahm die U-Bahn nach St. Pauli, wo auf dem Heiligengeistfeld das FuÃball- WM -Sommermärchen 2006 auf groÃen Leinwänden übertragen wurde. Beruflich flog ich nach Elba und Toulon, privat nach Cornwall. Es war ein Sommer der Superlative: bestes Wetter, aufregende Reisen, tolle Reportagen. Doch ich fühlte nichts. Ãberall kam ich mir vor, als wäre ich ein Gast in meinem eigenen Leben. Als wäre ich eigentlich schon gar nicht mehr da, als
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