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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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Sie zuerst den rechten Fuß und schieben Sie ihn vor. Setzen Sie ihn auf. Sehr gut. Nun heben Sie den linken Fuß …«
Systemischer Familientherapeut: »Was glauben Sie, denkt Ihr Bruder, was Ihre Eltern fühlen, wenn die hören, dass Sie zum Bahnhof wollen?«
Psychodramatherapeut: »Zum Bahnhof. Fein. Das spielen wir mal durch. Geben Sie mir Ihren Schirm, ich gebe Ihnen meine Jacke, und dann …«
Esoteriker: »Wenn du da hin sollst, wirst du den Weg auch finden.«
Sozialarbeiter: »Keine Ahnung, aber ich fahre Sie schnell hin.«
Neurologe: »Sie haben also die Orientierung verloren. Passiert Ihnen das öfter?«
    Selbstpsychologische Psychotherapie
    Die Psychotherapie, die ich bei Dr. Weston gemacht habe, nennt sich »selbstpsychologisch fundiert«. Sie wurde in den Siebzigerjahren von dem amerikanischen Arzt Heinz Kohut begründet und bis heute von vielen Therapeuten weiterentwickelt. Es ist eine moderne Variante der Psychoanalyse. Selbstpsychologie bedeutet: Der Patient steht mit sich und seinen Beziehungen zu anderen im Mittelpunkt. Das klingt sehr allgemein, könnte auf viele Therapien irgendwie zutreffen. Doch wenn man genauer beschreiben will, was diese Methode ausmacht, warum ausgerechnet sie mir am meisten geholfen hat, fängt die Schwierigkeit schon beim Namen »Selbstpsychologie« an. Deshalb zerlege ich den Begriff in seine beiden Wortbestandteile. Was Psychologie ist, weiß man ja noch einigermaßen: die Wissenschaft der Gefühle und des Verhaltens. Was das Selbst ist, lässt sich nur durch einen kleinen Exkurs erklären. Depressive sagen oft: »Ich möchte gern wieder ich selbst sein.« Aber was genau meinen sie damit? Wie unterscheidet sich das Selbst vom Ich? Von der Persönlichkeit, dem Charakter, der Seele? Wo findet sich all das im Gehirn? Sind es die eigenen Gedanken, die eigenen Gefühle? Beides? Wenn ein Schizophrener glaubt, andere Menschen kontrollieren, was er denkt, hat er dann überhaupt ein Selbst oder ein Ich? Stimmt das Modell von Sigmund Freud, nach dem es ein moralisches Über-Ich (»Du darfst nicht essen!«), ein triebhaftes Es (»Essen! Essen! Essen!«) und ein vernünftiges Ich (»Ein Riegel Schokolade ist in Ordnung«) gibt? Werden wir hauptsächlich von tierischen Instinkten gesteuert? Haben wir einen freien Willen?
    Am Tag, als Philipp sich von mir trennte, starb, nach meinem Gefühl, ein Teil meines Selbst. Aufgelöst fuhr ich zu meiner Freundin Claudia. Wir hatten uns vor vielen Jahren als Praktikantinnen bei einer Frauenzeitschrift kennengelernt. Die Geburt ihrer Zwillinge, gerade ein Jahr her, hinderte sie nicht daran, weiter die coolsten Klamotten nach der neusten Mode zu tragen. Wir standen in ihrer großen, glänzend weißen Küche, ich konnte mich von außen beobachten und hörte mich verzweifelt sagen: »Claudia, ich bin nicht mehr hier.« Ärgerlich sah sie mich an und antwortete barsch: »Natürlich bist du hier, ich sehe dich doch.«
    Ja, mein Körper existierte, aber mein Ich nicht mehr. Vermitteln konnte ich ihr das nicht, wir sprachen nicht dieselbe Sprache. Denn egal, wie man es bezeichnet, unser Inneres ist zwar eindeutig vorhanden, aber für andere, für Nicht-Depressive, unsichtbar. Wie dankbar war ich, als ich am selben Tag den Beipackzettel eines Beruhigungsmittels las. Dort stand: »Zur Behandlung von Spannungs- und Erregungszuständen.« Für mich ging es um Leben und Tod, ich war außer mir, neben mir, gestorben, ja, ich war bis zum Äußersten angespannt und erregt. Gab es also doch irgendwo auf der Welt einen Menschen, der mich verstand?
    Monate später saß ich an dem kleinen Schreibtisch in meinem Klinikzimmer, das aufgeschlagene Tagebuch vor mir, den Kuli in der Hand. Ich wollte aufschreiben, wer ich bin. Denn ich war mir meiner selbst nie sicher: War ich tatsächlich dominant, wie die Mitpatienten sagten? Intelligent, wie die Therapeuten meinten? Oder dumm, wie mich mein Vater geschimpft hatte? Dick, wie ich mich sah, oder dünn, wie der BMI befand, der Body-Mass-Index? Vor allem fühlte ich mich verloren, und das war furchtbar. Wie sollte ich leben, Therapie machen, wenn ich nicht mal wusste, wer ich war? Dreißig Minuten überlegte ich angestrengt, dann notierte ich: »Ich lese sehr gern. Ich liebe Hunde. Tanzen finde ich wunderbar, genau wie Segeln. Mir tut alles weh, ich habe Angst und

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