Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
möchte sterben.« Traurig klappte ich dann das Buch zu â ich hatte lediglich ein paar Fragmente von mir gefunden. Ein ganzes Selbst hatte ich nicht. Wieso kam ich dann aber ausgerechnet zu Dr. Weston und zur Selbstpsychologie?
In den Kliniken habe ich viele Depressive getroffen, die sich, genau wie ich, emotional orientierungslos fühlten. Das macht es umso schwerer zu wissen, welche Hilfe, welche Psychotherapie man braucht. Wer einen Bandscheibenvorfall hat, ist ja am Anfang auch kein Experte dafür, ob eine Operation angebracht ist oder konservative Mittel wie Medikamente und Physiotherapie reichen. Da ich nicht einmal benennen konnte, wer ich bin, fing ich an zu lesen. Wenn ich begreifen würde, was eine Depression ist, vielleicht würde ich mich dann finden? Wenn ich wüsste, was mir fehlte, würde ich vielleicht auch darauf kommen, welche Behandlung mir helfen würde. Was an mir war eigentlich gesund, was krank? Lesend suchte ich die Wahrheit in der Wissenschaft. Mir war nicht klar, dass man sich darin verlieren kann. Wer hat recht: Freud, Jung oder Adler? Die Wegweiserin der Kinderpsychoanalyse, die Britin Melanie Klein, oder der deutsche Psychologe Martin Hautzinger, Doyen der kognitiven Verhaltenstherapie? Die Neurowissenschaft oder die Transaktionsanalyse? Die Psychiatrie oder die Anti-Psychiatrie? Was das »innere Kind« ist, dazu gibt es nicht eine, sondern etliche ganz unterschiedliche Definitionen. Welche ist wahr? Solche Fragen lassen sich auf die ganze Welt ausdehnen: Haben wir das Jahr2012 , wie es das Christentum vorgibt? Oder leben wir im Jahr5773 , wenn man dem Judentum folgt?
Der Chefarzt der Klinik in Schleswig-Holstein meinte schon während meines ersten Aufenthalts zu mir: »Hören Sie auf Ihr Gefühl, es ist Ihr bester Ratgeber.« Heute verstehe ich, was er meinte, und ich riskiere es, mit Leichenbittermiene vor einem Psychiater zu sitzen und zu sagen: »Ich habe Todesangst, auch wenn es dafür keinen äuÃeren Anlass gibt. Aber die Angst ist real. Ich brauche Hilfe.« Früher hätte ich nie auf derartige Art mit dem Feuer gespielt, denn meistens unterschied sich das, wie ich mich fühlte, sehr von dem, wie andere die Situation wahrnahmen. Da meine Emotionen meistens anders waren, hieà das für mich, ich bin verkehrt. Deshalb fürchtete ich mich seit meiner Kindheit davor, dass ich verrückt bin. Es schien mir die einzig schlüssige Erklärung zu sein. Insofern war ich immer froh, festzustellen, dass ich wenigstens so »normal« bin, dass ich rein intellektuell noch andere Wirklichkeiten auÃer meiner eigenen anerkennen kann.
Wer an einer Psychose leidet, sich beispielsweise vom israelischen Geheimdienst Mossad verfolgt fühlt, kann darüber nicht mehr reflektieren. Wenn dann auf der StraÃe ein Rettungshubschrauber landet, denkt der Psychotiker: Jetzt holen sie mich. Hilfe! Ein guter Behandler würde zu ihm sagen: »Ich teile Ihre Ansicht, dass Sie gejagt werden, nicht. Denn ich gehe davon aus, dass der Helikopter gekommen ist, um die Verletzten des Autounfalls, der dort geschehen ist, ins Krankenhaus zu bringen. Aber ich glaube Ihnen, dass Sie groÃe Angst haben.« Warum der Patient sich fürchtet, was er für die Ursachen seiner Emotionen hält, muss nicht immer »richtig«, also deckungsgleich mit der äuÃeren Realität sein. Da es aber keine einzige, alleinige Wahrheit gibt, da viele Therapien auf verschiedene Weisen wirken, habe ich gelernt: Wenn es hart auf hart kommt, ist es das eigene Gefühl, das zählt: Das ist das Selbst. Die eigenen Emotionen sind immer wahr: Wer Angst hat, hat Angst.
So folgte ich rein meiner Empfindung, als ich den Chefarzt in der Klinik darum bat, mir einen ambulanten Therapeuten zu empfehlen: Das war dann Dr. Weston, der Selbstpsychologe. Sein Verfahren kannte ich nur oberflächlich, aber ich fühlte mich von ihm verstanden, gesehen und angenommen. In der ersten Sitzung sagte ich: »Ich brauche ein Brandbett.« Er erwiderte: »So schwer verletzt sind Sie?« Abgesehen davon, dass er mich verstand, hatte ich schnell das Gefühl, dass zwischen uns eine Verbindung bestand. Also entschied ich mich für eine Therapie bei ihm. Instinktiv lag ich damit vollkommen richtig: Denn für eine erfolgreiche Psychotherapie sind die Persönlichkeit des Therapeuten und die zwischen Patient und Behandler entstehende Beziehung die beiden wichtigsten
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