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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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hervorragende Alternative.
    Musik beruhigt, verbessert die Laune, heilt. Unsere Hörzellen sind die empfindlichsten Empfänger, die wir haben, noch vor dem Seh- oder Tastsinn. Und Gefühle werden am unmittelbarsten übers Ohr ausgelöst, weil die Hörkanäle direkt mit dem Thalamus (Teil unseres Zwischenhirns) und dem limbischen System (unser »Gefühlszentrum« im Gehirn) verbunden sind. Musik rührt an tiefe Schichten unserer Persönlichkeit – schon im Mutterleib, als wir noch im Fruchtwasser schwammen, hörten wir den Herzschlag der Mutter, die Töne und Geräusche, die durch ihren Atem, ihre Stimme, ihre Darmgeräusche und ihre Knochen erzeugt wurden. Töne wirken aber nicht nur auf die Seele, sondern auch auf das vegetative Nervensystem, sie beeinflussen die Herz- und die Atemfrequenz. Deshalb wird Musik beispielsweise auch erfolgreich zur Rehabilitation von Herzkranken, bei Komapatienten und Frühchen eingesetzt.
    Töne und Klänge sind für uns also deshalb so wichtig, weil Musik die Verbundenheit von Körper und Seele unterstützt, das Mit-sich-eins-Fühlen. Und genau das ist ja bei einer Depression aus dem Lot gekommen.
    Wie aber funktioniert eine Musiktherapie? Es geht dabei um das Hören von Musik, aber auch darum, aktiv zum Musizieren motiviert zu werden. Ich selbst habe diese Form der Therapie während meines ersten Klinikaufenthalts kennengelernt. Auf den vielen Instrumenten, die es dort gab, konnte man sofort losspielen. Normalerweise spricht man am Anfang der Stunde über das, was jeden einzelnen Patienten gerade bewegt. Danach folgt der Hauptteil, in dem Musik gemacht wird – der Therapeut spielt selbstverständlich auch mit –, in dieser Zeit wird nicht geredet. Anschließend spricht man darüber, was jeder in der musikalischen Phase erlebt hat. Wichtig für das Setting ist die Improvisation. Viele Patienten sagen: »Ich kann aber gar kein Instrument spielen.« Darum geht es jedoch nicht. Geräusche erzeugen kann jeder.
    Ob das Spiel im landläufigen Sinn schön klingt, ist nicht wichtig. Tatsächlich entsteht manchmal eine wunderbare Improvisation, manchmal tönt es erst einmal nur wie Krach. Hauptsache ist jedoch, dass mit der Musik Gefühle ausgedrückt werden, sodass man etwas über sich erfährt, auch über die eigene Position in der Gruppe beziehungsweise über das Miteinander mit dem Therapeuten. Passe ich mich an, oder reiße ich das Solo an mich? Geht mein Instrument unter, oder spielt es eine alles beherschende Rolle? Bin ich mit den anderen in Kontakt, spielen wir zusammen oder jeder für sich? Im anschließenden Gespräch versucht man, dem Gefühlten auf die Spur zu kommen. Was löst meine Musik in mir aus? Erinnert sie mich an etwas? Wie ging es mir mit der Musik des anderen? Mit dem gemeinsamen Spiel? Die Musik wird zu einem Symbol, hier bildet sich ab, was in einem selbst und in der Gruppe passiert. Mithilfe der Musik kann das spürbar gemacht werden, und dann wird es oft leichter, auch darüber zu sprechen.
    Das Schöne an nonverbalen Therapien ist: Hier kann man viel ausprobieren. Man muss nichts leisten, es gibt kein Richtig oder Falsch, man kann spielerisch experimentieren. Wie sich das anfühlt, beschreibe ich in dem nachfolgenden Protokoll, das ich nach meinen Erinnerungen während meiner ersten stationären Wochen anfertigte, aber auch während meiner noch folgenden Krankenhausaufenthalte:
    Von geheimen Gefühlen – meine eigene Musiktherapie
    Ich werde nie vergessen, wie die Musiktherapeutin – sie trug weiterhin wallende Gewänder, nur in unterschiedlichsten Farben – in einer der ersten Stunden sagte, mein Spiel auf dem Kontrabass hätte sich angehört wie ein Wimmern. Damit hatte sie exakt beschrieben, wie ich mich während des Musizierens gefühlt hatte – aber das war geheim! Dass ich mich wie ein wimmerndes, von seiner Mutter verlassenes Baby empfunden hatte, konnte ich nicht mal mir selbst zugestehen, geschweige denn jemand anderem. Zu fest verankert war in meinem Kopf die Härte, die mein Vater mir eingestanzt hatte. »Disziplin, Heide, Disziplin«, das sagte er andauernd. Und nun hatte die Musiktherapeutin mein innerstes Gefühl entdeckt, das Wimmern. Ich war schockiert, glaubte, mich verraten zu haben. Und gleichzeitig war ich überrascht und dankbar, dass jemand mitbekam, wie ich mich wirklich fühlte.

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