Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
eine Kostprobe aus einer meiner Sitzungenaus der Selbstpsychologischen Psychotherapie, die eine zeitgemäÃe Variante der PA ist:
Monatelang dazu ermutigt, auszudrücken, wie ich mich fühlte, fragte ich: »Dr. Weston, ist mit uns alles okay?«
Schweigen. »Wieso? Glauben Sie, dass etwas nicht in Ordnung ist?«, erwiderte er mit ernstem Blick.
Sofort kam ich mir vor wie in einer Prüfung, fühlte mich getadelt. Bestimmt hatte ich etwas Unpassendes gesagt. Also stammelte ich: »Ich weià nicht, aber wenn Sie das so sagen, habe ich den Eindruck, Sie kritisieren mich.«
»Ich will Sie nicht kritisieren«, meinte er nachdrücklich. »Es ist mir aber wichtig, zu verstehen, wie Sie zu dem Eindruck kommen, es sei nicht alles okay.«
Erleichtert atmete ich auf und sagte: »Sie wirken irgendwie angespannt.«
Zu meiner Ãberraschung antwortete er: »Ihr Gefühl ist zutreffend, ich habe im Moment sehr viel zu tun und bin deshalb etwas gestresst. Es hat aber nichts mit Ihnen zu tun.«
Beruhigt ging ich nach Hause. Doch wirkte Dr. Weston wieder einmal abwesend, streng oder unzugänglich, kochte die Panik, dass unsere Beziehung instabil sein könnte, erneut in mir hoch. Deshalb kamen wir in einem weiteren Gespräch abermals an diesen Punkt, und Dr. Weston fragte: »Wie kommt es, dass Sie das, was ich ausstrahle, unweigerlich auf sich beziehen?«
Bei mir kam an: Sie sind ja total egoman, es dreht sich nicht die ganze Welt um Sie! Also entschuldigte ich mich, was er ungeduldig wegwischte, mit dem Hinweis, dass es doch darum ginge, dieses Verhalten zu verstehen. Doch ich kam nicht drauf. Mit Dr. Weston beleuchtete ich deshalb das Unbewusste: Offenbar waren meine Emotionen in diesem Fall noch die eines Säuglings. Babys empfinden sich nämlich als Teil der Mutter, erst mit vier, fünf Jahren wissen kleine Kinder, dass sie mit anderen Menschen zwar emotional verbunden sind, aber ein eigenes Selbst haben. Da ich, ein seelischer Säugling, nur aus Bruchstücken bestand, noch kein stabiles Selbst hatte, fühlte ich mich grundsätzlich mit anderen verschmolzen. Das erklärte auch, warum mir das Leid jedes Obdachlosen, jedes Rollstuhlfahrers und jeder Blinden so naheging, als wäre es mein eigenes. Deshalb bezog ich die Anspannung von Dr. Weston auf mich. Jahrelang musste ich am eigenen Leib erfahren, dass die Beziehung von ihm aus stabil ist, auch wenn er mal verkrampft, mal ungeduldig und mal fordernd ist. Heute frage ich ihn nur noch selten: »Alles okay?«
In der Analyse ist die Beziehung zwischen Analytiker und Analysand nicht nur die Grundlage, auf der dann die Technik zum Tragen kommt, sondern sie ist die Technik selbst. Wenn man die therapeutische Beziehung versteht und ihre bewussten und unbewussten Anteile analysiert, findet man heraus, warum der Klient die Welt durch eine bestimmte Brille sieht, sich so fühlt, wie er sich fühlt, und warum er sich und seine Beziehungen innerhalb und auÃerhalb der Behandlung so gestaltet, wie er es tut. Analytiker wollen das ganze Selbst und nicht nur Symptome ( KVT ) oder Teilaspekte ( TP ) behandeln. Die tief sitzenden, unbewussten Probleme sollen in der therapeutischen Beziehung durch Ãbertragung und Gegenübertragung erneut aufleben â so hatte ich furchtbare Angst, verlassen zu werden, und klammerte mich deshalb an Dr. Weston, als sei er meine Mutter, ohne die (ohne den) ich nicht leben konnte. In der Fachsprache heiÃt das Regression.
Nun gilt es, sich zusammen das Unbewusste fortlaufend bewusst zu machen: Die Angst vor dem Verlust ist ein verdrängtes, aber berechtigtes Gefühl aus meiner Kindheit, denn meine Mutter ist ja tatsächlich gestorben. Da die Beziehung zu ihr instabil, aber trotzdem sehr eng war, war ich sehr von ihr abhängig und mein eigenes Ich nur bruchstückhaft ausgebildet. Mein Gefühl, dass etwas von mir mit ihr gestorben war, mein Selbst nur aus Splittern bestand und ich allein nicht lebensfähig war, ist in der Subjektivität meiner Geschichte zutreffend. In der Beziehung zu Dr. Weston lebte ich die Empfindungen, die eigentlich meiner Mutter gegolten hätten (Trauer, Liebe, Wut), aus, und wir reflektierten, was sich zwischen uns abspielte und warum. Da Dr. Weston eine bessere Mutter war als meine eigene und dazu Therapeut, konnte ich mich seelisch von dem in seiner Reifung stehen gebliebenen kleinen Kind zu einer selbstbewussten Erwachsenen
Weitere Kostenlose Bücher