Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Freiheit ist bei uns ein hohes Gut. Es sind oft nur vierundzwanzig Stunden, für acht oder zehn Tage braucht ein Richter erhebliche Gründe. Der Patient kann auch einen Anwalt hinzuziehen. Natürlich ist jemand, der festgehalten wird, gekränkt und ärgerlich. Aber die meisten verstehen später, dass dies zwar ein einschneidender, in dieser Situation aber notwendiger Schritt war.
15 Von schmerzhaften Abschieden und treuen Seelen â Freundschaften in der Krankheit
W enn ich im Krankenhaus bin, also mehrmals im Jahr, wünsche ich mir, dass mich viele Freunde wenigstens am Wochenende besuchen. Doch ich habe begriffen, wie aufwendig das ist, gerade mit Job und Kindern, zumal die Klinik ja nicht in Hamburg liegt. Und dass ich meine Freunde nicht überlasten darf, wenn ich sie behalten will. Sehr deutlich wurde mir das an einem trüben Februartag 2009. Ich hörte den Postboten im Hausflur und zog einen Brief aus dem Türschlitz. Als ich den beigefarbenen Umschlag in der Hand hielt, wusste ich Bescheid. Mein Herz blieb einen Moment stehen, und mir wurde ganz kalt. Ich war mir sicher â konnte allerdings nicht sagen, warum â, dass Abigail sich mit diesem Brief von mir als Freundin verabschieden würde. Und so war es. Sie schrieb: »Deine Krankheit ist so schwer, dass ich sie nicht mehr mit dir tragen kann. Deshalb breche ich den Kontakt hiermit ab, weil er mir schadet.« Das zu lesen schmerzte sehr. Ausgerechnet Abigail, mit der ich schon lange befreundet war und die ich so gern hatte. Wir kannten uns noch aus der Lehrzeit bei der Hamburger Bank, sie war gleich bei der ersten Begegnung offen und freundlich gewesen. Nun dieser Brief. Ich war tieftraurig, doch vor allem schämte ich mich. Was für ein anstrengender Mensch musste ich sein, dass sich ausgerechnet Abigail von mir trennen wollte? Mein Vater hatte offenbar doch recht: Ich bin für andere eine Zumutung.
In anschlieÃenden Gesprächen mit Freunden und meinem Therapeuten legte sich meine Scham ein bisschen. Doch das fiese Gefühl, zu schwer zu sein, eine Belastung zu sein, ist geblieben. Seitdem ich den Brief von Abigail bekommen habe, achte ich noch mehr darauf, bei Treffen mit Freunden nicht nur von mir und nicht nur von meinem Elend zu erzählen, sondern auch den anderen Raum zu geben. Eigentlich fällt mir das leicht, denn es interessiert mich immer, was bei ihnen passiert. Als ich einmal mit einer Freundin ins Kino ging, erzählte sie mir auf dem Weg dorthin, dass sie schwanger sei. Ich freute mich riesig für sie. Dennoch weià ich: Meine Sicht auf die Welt ist verzerrt, da ich stets vom Schlimmsten ausgehe und alles schwarzmale. Im Zusammensein mit Freunden versuche ich die positiven Dinge zu sehen und zu benennen â doch das fällt mir oft schwer.
Eine Depression kann man nicht sehen wie einen gebrochenen Arm oder einen Stock, an dem man gehen muss. Auch deswegen ist es leicht, die Krankheit zu bagatellisieren. Jeder ist mal schlecht drauf, trauert wegen einer Trennung oder eines Todesfalls. So etwas gehört zum Leben dazu, und nahezu jeder muss da durch. Und doch ist der Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit riesig.
Vor Kurzem sagte ein Freund zu mir: »Ich habe auch manchmal schlechte Tage, so wie du.« Und ich dachte: Du hast keine Ahnung. Eine Depression ist eine schwere, manchmal lebensbedrohliche Erkrankung â und überhaupt nicht vergleichbar mit den üblichen Hochs und Tiefs. Doch weil sie so unsichtbar ist, bekommt mancher Erkrankte von Verwandten und Freunden, Chefs und Kollegen viel weniger Verständnis als ein Patient beispielsweise mit einem Bandscheibenvorfall â obwohl er oder sie viel stärker leidet.
Ich hatte insofern Glück, als dass die Gründe für meine Depression für viele meiner Freunde nachvollziehbar waren. Meine Lebensgeschichte lieà ihnen meine Krankheit verständlich erscheinen. Doch wer ein »normales« Leben führt, scheinbar unter keinen groÃen Problemen zu leiden hat und trotzdem depressiv ist, hat es nicht so leicht, Anerkennung zu finden. Trotz der Nachvollziehbarkeit meiner Erkrankung musste ich erfahren, dass mich etliche Freundinnen verlieÃen. Nicht nur Abigail. Auch Camille. Ich bekam eine E-Mail von ihr. Sie schrieb: »Du bist immer so negativ. Wenn wir uns getroffen haben, ging es mir hinterher häufig schlechter. Dem möchte ich mich nicht mehr aussetzen.«
Camille hatte ich vor
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