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Kalt, kaltes Herz

Kalt, kaltes Herz

Titel: Kalt, kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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für Patienten mit posttraumatischer Streßreaktion, therapieresistente Vietnamveteranen, die so unbeschreibliche, grauenvolle Dinge erlebt hatten, daß sie sich nicht daran erinnern, geschweige denn darüber sprechen konnten. Allerdings wiesen ihre Suizidversuche deutlich auf ihre traumatischen Erfahrungen hin. Fast jeden Tag machte jemand Anstalten, mit irgendeinem verfügbaren Gegenstand Selbstmord zu begehen – einer Plastikgabel, einem ungeschützten Stromkabel, einer als Schlinge an einer Toilettentür befestigten Hose. Wie Chirurgen, die Geschwülste aufschneiden, injizierten wir einem nach dem anderen Amytal und hörten zu, wenn sie sich ihre verdrängten Ängste von der Seele redeten. Nachdem ihre Schutzmechanismen gefallen waren, wußten wir wenigstens, mit welchen Geistern wir zu kämpfen hatten.
    Eine Spritze Amytal würde Westmoreland zwar nicht von seiner Schizophrenie heilen, doch vielleicht würde sie seinen Widerstand brechen, damit er uns die Ereignisse im Wald von Lynn schilderte.
    Ich stellte das heiße Wasser ab und hielt den Atem an. Wenn Kathy und ich zusammen duschten, wetteten wir immer, wer es länger unter dem kalten Strahl aushielt. Sie gewann meistens, weil ihre Schmerztoleranz viel höher lag als meine – vermutlich höher als die jedes Menschen, den ich kannte. Ich hatte sie noch nie auch nur ein Aspirin nehmen sehen, nicht einmal, als sie nach einem meiner Seitensprünge mit der Faust an die Wand geschlagen und sich zwei Finger gebrochen hatte. Ich lehnte mich wieder an die Marmorfliesen und versuchte mir vorzustellen, wie sie nackt dastand und schadenfroh kicherte, während ich vor Kälte zitterte. Wo duschte sie wohl heute morgen?
    Um Viertel nach sechs kam ich im Revier an. Ein Polizeibeamter namens Tobias Lucey hatte Dienst an dem kleinen Schalter vor der Tür zum Gefängnis. Er las den
Boston Herald.
»Ich bin Doktor Clevenger«, unterbrach ich seine Lektüre. »Mr. Westmorelands Psychiater.«
    Er blickte kurz auf und beugte sich dann wieder über die Zeitung. »Ich brauche die Erlaubnis von Captain Hancock, um Sie reinzulassen.« Für einen Polizisten sah er ziemlich schwächlich aus, und sein Tonfall war höchst arrogant. »Ich weiß, daß Sie noch neu sind.« Ich lächelte. »Ich besuche hier immer meine Patienten.«
    »Ich habe keine Vormerkung«, entgegnete er und blätterte um. »Glauben Sie etwa, ich komme um diese nachtschlafende Zeit hierher, um mich mit Ihnen herumzustreiten?«
    Endlich sah er mich an. »Westmoreland kriegt keinen Besuch. Er steht unter besonderer Bewachung, weil er gestern jemanden angegriffen hat.«
    »Das weiß ich. Interessiert es Sie, woher?«
    Er antwortete nicht.
    »Weil ich derjenige bin, der angegriffen wurde. Und wenn ich ihm nicht seine Medikamente bringen darf, dreht er vielleicht wieder durch.« Ich hielt die Ampulle Amytal hoch.
    »Ich kann Sie nicht reinlassen, bevor Captain Hancock kommt. Keine Ausnahme.« Nach einem Blick auf die Uhr wandte er sich wieder seiner Zeitung zu. »Sie ist um halb acht hier.«
    »Gut, dann hinterlege ich das da bei Ihnen«, sagte ich und schob das Amytal unter der Glasscheibe durch. »Und Sie erklären Tante Emma, daß ich um halb sieben hier war, um ihm wie vereinbart seine Spritze zu geben. Wenn Westmoreland ausflippt und sich den Schädel an der Zellenwand einschlägt, ist das nicht mein Problem. Ich wollte nur meinen Auftrag erfüllen.« Ich machte Anstalten zu gehen.
    »Äh, Doktor... »
    Ich blieb stehen und drehte mich um. »Clevenger, Frank Clevenger.«
    »Spielt eine Stunde mehr oder weniger wirklich eine Rolle?«
    Ich zog eine große Show ab, als müsse ich mich erst beruhigen. »Nun, Officer Lucey, das ist schwer zu sagen. Vielleicht hält Westmoreland bis sieben durch. Möglicherweise auch bis halb acht oder sogar bis acht. Aber es kann genauso gut sein, daß er sich schon in zwanzig Minuten einen Finger abbeißt oder ein Auge aussticht.«
    »Das wußte ich nicht.« Lucey zuckte die Achseln.
    »Das war der erste Schritt.«
    »Wie bitte?«
    »Der erste Schritt in Richtung Erleuchtung: Sie wissen, daß Sie nichts wissen.«
    »Wenn Sie meinen ...« Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. »Dann bringen wir ihm eben seine Medizin.« Westmoreland hatte erst nach Mitternacht sein Thorazin bekommen. Jetzt lag er, nur im T-Shirt und schmutzigen Boxershorts, zusammengekrümmt auf dem Boden und schlief unruhig. Seine restlichen Sachen waren in der Form einer menschlichen Gestalt auf dem Bett

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