Kalt, kaltes Herz
»Mein Bruder ist vor einigen Jahren gestorben. Ich habe sie hin und wieder besucht und gehofft, ich könnte sie für die Kirche interessieren. Sie war ein wunderbarer Mensch. Sie wußte nur nichts mit ihrem Leben anzufangen.«
»Standen Sie ihr sehr nahe?«
»Sie wissen doch, daß ich niemanden nah an mich heranlasse.« Ich wartete ab, in der Hoffnung, sie würde mir mehr über sich erzählen.
Eine Weile blieb sie stehen und sah mich an. Dann straffte sie die Schultern. »Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob beide Taten von demselben Mann begangen wurden. Der
North Shore Weekly
hat gestern einen Artikel gebracht, in dem der Mord an Sarah Johnston in allen Details geschildert wurde. Vielleicht haben wir es mit einem Trittbrettfahrer zu tun.« Ich nickte. Vermutlich suchte sie verzweifelt nach einer Erklärung, die sie von ihrer Schuld freisprach. Ich wußte nicht genug über den Fall, um ihr zu widersprechen, doch das war mir ganz recht.
Sie schlug die Fingernägel so fest gegeneinander, daß ich schon fürchtete, sie würden abbrechen. »Wer immer das Monique auch angetan hat, ich werde ihn finden«, schwor sie. »Gott ist mein Zeuge.« Dann sah sie mich wieder an. »Auch wenn wir es nicht mit einem Serienmörder zu tun haben, brauchen wir dringend ein Täterprofil. Und dabei bin ich auf Ihre Hilfe angewiesen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Vorhin haben Sie ins Schwarze getroffen, Emma. Ich bin dazu nicht in der Lage. In Ihrem Fall würde ich die Finger von Fitzgerald lassen, aber Chuck Sloane nimmt den Fall bestimmt an.«
»Sloane will ich nicht. Er ist ein Pfuscher.«
»Andrew Rothstein vom New England Medical Center ist ein zuverlässiger Mann.«
Sie betrachtete mich. »Ich suche keinen zuverlässigen Mann, Frank. Nicht mehr. Kein gewöhnlicher Seelenklempner kann nachvollziehen, was in diesem Ungeheuer vorgeht.«
»Ich würde Ihnen nichts nützen. Ich bin nicht klar im Kopf.«
»Ich verstehe. Zweihundertfünfzig die Stunde. Zehn Stunden Vorschuß.«
»Es geht nicht ums Geld.«
»Fünfunddreißigtausend Vorschuß. Ich sorge dafür, daß sich jemand um diesen Jungen mit der Fahrerflucht-Anzeige kümmert. Ich habe gehört, er will unbedingt auf die Polizeiakademie.«
Ich verdrehte die Augen. »Spitze. Wieder mal ein wahrhaft vertrauenswürdiger Zeitgenosse mit Polizeimarke.«
»Was wollen Sie sonst noch? Sie brauchen es nur zu sagen.«
Ich warf einen Blick auf Westmorelands getrocknetes Blut an der Wand und knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte ich ihr geantwortet, daß ich ihr die Todesangst wünschte, die einen Paranoiker befällt, wenn man ihn wie ein Tier in einen Käfig sperrt. Ich wollte, daß sie die psychische Bedrängnis durchlitt, die es einem als vernünftigen Ausweg erscheinen läßt, sich eine Socke in den Hals zu stopfen. Ich wollte ihr Geständnis, daß sie nicht fähig war, so tief um ihre Nichte zu trauern wie Westmoreland um seinen Freund. Aber sie litt auch so schon genug. »Ich will gar nichts von Ihnen, Emma«, entgegnete ich deshalb.
Sie schürzte die Lippen. »Sie wurden wegen Kokainbesitzes festgenommen.«
»Dann sitze ich meine sechzig Tage eben ab. Irgendwann mußte es ja so kommen.«
»Könnte auch länger werden. Vielleicht möchte der Richter an Ihnen ein Exempel statuieren.«
»Vielleicht.«
»Und da wäre auch noch die Ärztekammer.«
Ich starrte sie entgeistert an.
»Ist das Ihr letztes Wort?« Sie fixierte mich. »Ich frage Sie nicht noch ein mal.«
Ich nickte, wenn auch zögernd. Ich wußte nicht, welche Trümpfe sie sonst noch im Ärmel hatte.
»Also gut«, sagte sie. »Sie haben freie Hand.« Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich regle das mit der Anklage wegen Drogenbesitz und der Fahrerflucht-Anzeige und sorge dafür, daß Sie die Stunden bezahlt bekommen, die Sie bis jetzt in den Fall investiert haben. Die Ärztekammer erfährt nichts. Die ganze Sache – Westmoreland und Monique – war mein Fehler. Sie hatten von Anfang an recht.« Sie atmete tief durch. »Auch wenn es Ihnen egal ist, mich interessiert es nicht, was die anderen wegen Prescott, dem Koks oder sonst über Sie sagen. Sie sind in Ihrem Job der Beste, ob Sie das nun glauben oder nicht.« Mit diesen Worten ging sie hinaus.
Soviel zum Thema McLean. Ich folgte dem Wagen von Emma Hancock zur Gerichtsmedizin. Es war kurz nach acht Uhr morgens. An beiden Seiten der Union Street tuckerten Müllwagen vorbei. Der Gestank drang sogar durch die geschlossenen Fenster des
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