Kalt, kaltes Herz
erschöpft. »Ich habe ihn nicht verlegt.« Ich nickte ganz automatisch. Dann aber stutzte ich. »Was soll das heißen, Sie haben ihn nicht verlegt?« Noch einmal sah ich mich im Zellenblock uni: kein Mensch.
Sie senkte die Augen und blickte mich dann an. »Er ist tot, Frank. Er hat sich umgebracht.«
»Umgebracht?«
»Er hat sich eine Socke in den Hals gestopft. Tobias Lucey hat ihn gestern spät in der Nacht tot aufgefunden.« Ich sprang hoch. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen auf ihn aufpassen«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Sie zuckte die Achseln. »Niemand hat das gewollt.«
»Niemand?« Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. »Und was ist mit Ihnen?«
»Ich wünsche keinem Menschen den Tod.«
»Nein? Auch nicht tief in Ihrem Innersten, auf das die Nonnen von Sacred Heart keinen Einfluß hatten? Überlegen Sie mal: Es ist doch viel einfacher, Westmoreland aus dem Weg zu schaffen, als zu riskieren, daß ein neunmalkluger Pflichtverteidiger sich mit dem Fall zu profilieren versucht.« Ich trat einen Schritt auf sie zu. »Wer regt sich schon darüber auf, was mit einem Penner passiert?«
Sie richtete sich auf. »Ich habe ihn nicht getötet.«
»Nicht auf eine Weise, für die man Sie zur Verantwortung ziehen könnte. Wenigstens nicht in diesem Leben. Aber damit sind ja wohl alle Probleme beseitigt, die ihren Wahlkampf stören könnten, nicht wahr? Mörder gefaßt. Mörder tot. Ende der Geschichte. Richtig, Bürgermeisterin Hancock?« Ich machte noch einen Schritt auf sie zu.
»Nein. Sie irren sich.«
»Ich irre mich? Ach, das ist ja interessant, Emma. So sagen Sie mir schon, wie leid es Ihnen tut. Wie sehr Sie wollten, daß Westmoreland seine gerechte Strafe erhält.«
»Wir haben wieder eine Leiche.«
»Wieder eine ...« Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube verpaßt. Eine Weile starrte ich sie an, dann taumelte ich rückwärts und ließ mich auf meine Pritsche sinken. »Gleiche Vorgehensweise?«
»Nicht direkt, aber nah dran.«
»Wer war sie?«
»Sie?«
»Das Opfer, Emma.«
»Warum sagen Sie ›sie‹?«
»Das schließe ich aus Kleinigkeiten. Zum Beispiel daraus, daß der Mörder offenbar darauf steht, Frauen die Brüste abzuschneiden.«
»Sie war neunzehn«, antwortete Hancock tonlos. »Alleinstehend. Lebte in der Park Street. Ihr Mitbewohner hat sie vor ein paar Stunden zu Hause gefunden.«
»Krankenschwester?«
»Tänzerin.«
Ich sah sie an.
»Sie arbeitete im Lynx Club.« Hancock musterte mich prüfend. »Mein Gott. Ich war eben erst dort.«
»Ich weiß. Das ist einer der Gründe, warum ich Sie von Malloy herbringen ließ. Der Besitzer notiert die Autonummern von allen Wagen auf seinem Parkplatz. Nur für den Fall, daß es Arger gibt.« Sie verschränkte die Arme. »Und Sie stehen auf der Liste.«
»Und ...«
»Und Sie waren ziemlich sauer, weil Sie sich im Fall Westmoreland nicht durchsetzen konnten.«
»Und weiter?«
»Und ich habe keine Ahnung, wie sauer Sie werden können, Frank, besonders nicht, wenn Sie Koks nehmen. Sie sind für mich wie ein fremder Mensch.«
Ich sah sie ungläubig an. »Sie denken, ich hätte die Tänzerin umgebracht? Warum? Um meine Theorie zu beweisen?« Sie zuckte die Achseln.
Ich stand auf und näherte mich ihr auf Armeslänge. »Ihre Schuldgefühle fressen Sie auf, Emma«, sagte ich leise. »Sie sind für den Tod dieses Mädchens verantwortlich, und Sie wissen das. Sie haben zugelassen, daß der Täter frei auf der Straße herumläuft und nicht einmal Angst vor Verfolgung zu haben braucht. Und da Ihr Leben ansonsten so traurig und leer ist, würden Sie alles tun, um Bürgermeisterin zu werden.« Ich kam noch näher. »Bürgermeisterin von Lynn.Ein toller Job. Was für ein jämmerliches Motiv. Sie kotzen ...«
Sie wandte sich ab und schien mit den Tränen zu kämpfen.
Ich stand einfach nur da.
Dann holte sie tief Luft und drehte sich wieder zu mir um. »Sie hieß Monique Peletier«, sagte sie. »Sie war meine Nichte.«
Eine Ausbildung als Psychiater sollte einen eigentlich dazu befähigen, die Trauer eines anderen Menschen schweigend mitanzusehen. Doch ich brauchte Worte, um mich dahinter zu verstecken.
Hancock rieb sich mit den Handballen die Augen, verschränkte wieder die Arme und sah durch die Gitterstäbe der Zelle. Sie wirkte eher verwirrt als traurig, als ob sie es nicht fassen könnte, daß ihr sechster Sinn sie so schnöde im Stich gelassen hatte. Ich kannte dieses Gefühl.
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