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Kalt, kaltes Herz

Kalt, kaltes Herz

Titel: Kalt, kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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Einstein-Büste aus imitiertem Elfenbein stand auf dem Armaturenbrett, und zu meiner Überraschung entdeckte ich im offenen Handschuhfach eine Stereoanlage mit Equalizer und Verstärker. Ich fragte mich gerade, ob Levitsky ein heimlicher Hard-Rock-Fan war, als er auf den Knopf drückte und aus den vier Lautsprechern ein medizinischer Vortrag über das Lymphsystem in den unteren Extremitäten ertönte. »Die afferenten Lymphgefäße«, dozierte eine Männerstimme, »verlaufen parallel zur Beinvene, während die Gefäße im Knie dem Verlauf der Kniearterien folgen.«
    »Du meine Güte«, murmelte ich.
    »Pssst«, schimpfte Levitsky.
    »Ein Großteil der Efferenten folgt der arteria femoralis zum Beckenboden«, fuhr die Stimme fort. Ich drückte erst auf STOP und dann auf EJECT. »Hörst du so was zum Vergnügen?«
    »Warum nicht?« Er wies mit dem Kopf auf das Handschuhfach. »Da drinnen liegt eine Kassette über Neuroanatomie, wenn du das lieber magst.«
    Ich wollte an etwas anderes denken als an Körperteile. »Gibt's bei dir auch Musik?«
    »Auf der Rückseite der Kassette über die Knochenstruktur des Gesichts ist das Violinkonzert von Mendelssohn.« Ich suchte die Kassette heraus und schob sie in den Recorder. Levitsky hatte den Fuß halb auf der Bremse und fuhr nicht schneller als fünfunddreißig. Bei jedem Crescendo trommelte er mit den Daumen aufs Lenkrad. Ich starrte ihn verdutzt an. »Hätte nie gedacht, daß du zu solcher Begeisterung fähig bist.«
    Er sah mich an und dann seine Finger. »Ein aufwühlendes Stück«, sagte er. »Und Jane Dimitry, die Geigerin, hat den vollkommenen Strich. Das habe ich mit dem Oszillographen gemessen.«
    »Dem Oszillographen?«
    »Einem Gerät, das ...«
    »Ich weiß, was das ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Genau das ist dein Problem, Paul. Klangwellen sagen nicht das geringste darüber aus, warum dich die Geige bewegt. Schönheit ist nicht meßbar.«
    »Die Schönheit liegt bei 40,2 Hertz.«
    »Wirklich? Das ist alles? Warum kannst du dann nicht solche Klänge erzeugen wie sie? Besorg dir einfach eine Geige und einen Oszillographen und tritt einem Orchester bei.«
    »Deine dämlichen Fragen nerven.«
    »Du nennst sie nur dämlich, weil du keine Antwort darauf hast.«
    Er warf mir einen Blick zu. »Die Antwort lautet, daß ich nicht die gleichen Finger und Ohren wie die Geigerin habe. Ich bin mit anderen Zellen in Retina und Cochlea und mit anderen Rezeptoren in der Dermis geboren und nicht auf die gleichen Reize eingestimmt wie sie. Vielleicht funktioniert auch ihr Zerebellum, das für ihren Gleichgewichtssinn verantwortlich ist, wenn sie mit einem Stück Holz an Hals und Schulter dasitzt, besser als meins. Ihre Nervenganglien, die Sinneswahrnehmungen in motorische Reaktion umsetzen, haben einen geringeren elektrischen Widerstand.« Jetzt erst holte er Luft. »Ihre Musik setzt sich also aus einer Unzahl einzelner Faktoren zusammen.«
    »Falsch«, entgegnete ich. »Ihre Musik ist mehr als die Summe ihrer Teile. Deshalb bezahlen die Leute auch soviel Geld, um sie spielen zu hören. Sie möchten dabei sein, weil sich Schönheit nicht erklären läßt. Aus dem gleichen Grunde stehen die Leute Schlange, um van Goghs Bilder zu sehen, und strömen zu Tausenden ins Football-Stadion, um zu sehen, wenn ein Mann einen Ball wirft und ein anderer ihn sechzig Meter entfernt wieder auffängt und zum Sprint ansetzt, während ihm die gegnerische Mannschaft den Weg versperren will.«
    »Wie kommst du von Mendelssohn über van Gogh auf Football? Worauf willst du hinaus?«
    »Daß jeder von uns nach Beweisen für die Existenz einer höheren Macht sucht. Nichts an unserem Verstand oder Körper kann erklären, warum der Ball im entscheidenden Augenblick in der Hand des Fängers landet. Dieses Ereignis ist mehr als eine Summe einzelner Faktoren. Es ist ein Wunder.«
    Levitskys Daumen tanzten auf dem Lenkrad. »Und das erhebt ein Football-Stadion zu einer religiösen Kultstätte.« An gewissem Sinne, ja. Schließlich nennen wir unsere Sporthelden nicht umsonst Idole‹. Sie lassen uns die Existenz Gottes spüren.«
    »Jetzt weiß ich Bescheid.«
    Wir fuhren gerade auf dem Lynnway am Schooner Pub vorbei, als ich Emma Hancocks Dienstwagen, den roten Jeep Cherokee, vor dem Lokal entdeckte. »Fahr auf den Parkplatz«, bat ich Levitsky.
    »Schmink dir das ab«, entgegnete der. »Saufen kannst du in deiner Freizeit.«
    »Da steht Emma Hancocks Auto, Paulson.«
    Er sah hinüber. »Du hast recht.« An

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