Kalt kommt der Tod (German Edition)
Der Wind kratzte in ihren Gesichtern wie Sandpapier, und die Kälte drang nach wenigen Schritten durch die Kleidung. Die Luft schmeckte frisch und sauber.
Zweimal zischten Skidoos an ihnen vorbei, wendige Schneemobile, von denen in Longyearbyen viele, aber nicht mehr als Autos unterwegs waren. Ihre Kufen glirschten über das Eis wie Rattenkrallen.
Nach der ersten Biegung sahen sie das futuristische Kupferdach der Universität, die von allen UNIS genannt wird und unter Studenten der Arktisforschung und Meeresbiologie zu einer der begehrtesten Einrichtungen zählte, um zu lernen und zu forschen.
»Alle Bewerber, die es hierher schaffen, sind handverlesen«, erklärte ihm Jenna. »Meistens studieren dreihundert Studenten dort gleichzeitig, dazu kommen etwa vierzig Professoren und dreimal so viele Gastdozenten, manche von hohem Rang.«
»Dann warst du also eine Streberin«, sagte Phong. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Weil sie dich genommen haben.«
»Carolin war die Bessere von uns, da kannst du jeden fragen. Mir hat man später jedenfalls keine Professur angeboten.«
31
Morton Paulsen, der Direktor der UNIS, ein Norweger aus Hammerfest, empfing sie in seinem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer. Die abgestandene Luft roch nach – Muscheln? Packer hatte Mühe, die Essenz herauszufiltern.
Paulsens Stuhl schabte über den Boden, als er aufstand, um sie zu begrüßen. Er erfüllte in keiner Weise das Klischee des verknispelten Wissenschaftlers, der nur für seine Arbeit lebt und den Rest der Welt begnadigt.
Beinahe so groß wie Packer war er. Seine dichten grauen Haare waren nach hinten gekämmt und fielen bis auf die Schultern. Unter dem schwarzen Rollkragenpullover spannten sich Muskeln. Die Brille, ein rundes Silbergestell mit hellblau getönten Gläsern, passte zu seinem offenen Gesicht, das untenrum von einem weißen Drei-Tage-Bart bedeckt wurde. Man stecke ihm eine stinkende Gauloise in den Mund, dachte Packer, und er würde als Existenzialist vom Montmartre in den 1960er Jahren durchgehen. Nur die Jeans mit der eingebauten Bügelfalte passte nicht recht ins Bild.
Packer schätzte ihn auf höchstens fünfundvierzig, dabei musste er mindestens zehn Jahre älter sein.
Hinter seinem Schreibtisch hing eine Landkarte der Polarregion an der Wand, mit dem Nordpol im Zentrum.
»Unglaublich«, sagte Paulsen und küsste Jenna auf beide Wangen, »du hast dich kaum verändert.«
Sie tätschelte seinen leichten Bauchansatz.
»Du schon, Morton, du schon. Wie geht’s deiner Frau?«
»Sie ist tot, danke.«
»Oh.«
»Krebs. Die Bauchspeicheldrüse, wenigstens ging es schnell.«
»Das tut mir leid, Morton. Ich hab sie gemocht, wirklich.«
»Das wusste sie, mach dir darüber keine Gedanken.«
Packer erinnerte sich, wie Jenna erwähnt hatte, bei Riesenberg im Büro, sie habe eine kurze Affäre mit dem Direktor gehabt, und nun begriff er auch, weshalb sie diesen Mann attraktiv fand.
Paulsen kehrte hinter den Schreibtisch zurück und forderte sie auf, sich zu setzen. Er lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, zog mit der Spitze seines rechten Schuhs die unterste Schublade ein Stück heraus und stellte seinen Fuß darauf.
»Ich nehme an, ihr kommt wegen Carolin.«
»Natürlich«, antwortete Jenna.
»Wir haben alles Menschenmögliche unternommen, um sie zu finden. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Niemand hat eine Erklärung dafür. Auf Spitzbergen gibt es nur noch zwei Themen: die drei verschwundenen Frauen und den Lomonossow-Rücken. Wobei ich zugeben muss, dass der Lomonossow zum ersten Mal seit Jahren den zweiten Platz einnimmt.«
»Wessen Rücken?«, fragte Packer.
»Ein Gebirgszug im Meer«, antwortete Jenna, »tausend Meter unter der Wasseroberfläche und tausendachthundert Kilometer lang. Die Russen behaupten, er gehört ihnen, die Dänen sagen, er ist eine Verlängerung von Grönland, und erheben daher ebenfalls Ansprüche. Ähnlich argumentieren die Amerikaner und die Kanadier, deshalb ist alles so kompliziert.«
»Selbstverständlich«, fügte Morton Paulsen hinzu, »gehört auch mein Land dazu. Norwegen strebt genauso danach, seinen Einfluss jenseits der Zweihundert-Meilen-Zone auszuweiten. Die Russen haben Atomeisbrecher und Forschungsschiffe ins Nordmeer geschickt, immer wieder tauchen welche vor unserer Nase auf. Vor drei Jahren, ich muss sagen, eine technische Meisterleistung, hat eines ihrer ferngesteuerten
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