Kalt kommt der Tod (German Edition)
reingebracht, ich hab’s genau gesehen. Und fotografiert.«
Hinter einer Kohlenhalde lagen sie auf dem Bauch im Schnee und beobachteten den Container, vor dem zwei rauchende Posten standen und leise miteinander redeten.
Kokina sagte: »Ich geh rüber zu ihnen und erzähl ihnen eine kleine Geschichte. Dass ich für eine russische Zeitung arbeite, auch wenn das Blödsinn ist – so was in der Art. Ich nehme deine Kamera mit. Die lauschen jedem Wort, nicken, lächeln, wenn ich lächle. Das sind Russen, die mögen Medien, und wenn ich nah genug dran bin …«
Später erzählte Kokina jedem, wie er, die Kamera des Trappers vor der Brust, auf den Container und die Soldaten zumarschierte. Er fotografierte – mit Blitz, genau – so lange, bis sich eine Hand auf das Objektiv legte. Der Posten, der ihm am nächsten war, ein junger Kerl mit kurz rasierten Bartstoppeln, griff nach der Kamera und wollte sie ihm abnehmen, aber Kokina sagte: »Willst du mich arbeitslos machen?« Und sieht rüber zu Magnus, macht ihm Zeichen, in die Gänge zu kommen.
»Wir sind für Nowaja Gaseta unterwegs. Der da«, er zeigte auf den Trapper, der jetzt aus dem Schatten neben dem Container trat, »ist der Schreiberling, ein Norweger, ich fotografiere. Wird eine große Reportage, Wladimir Choma hat sie selbst bei unserem Chefredakteur bestellt. Er will sein Gesicht, sooft es geht, in der Zeitung sehen. Er hat genug Geld, um jeden zu schmieren. Einer, der abkassiert, ist unser Chefredakteur, dafür lässt er Choma gut aussehen. Dabei wäre das gar nicht nötig, Choma hat die Gaseta nämlich vor einem Jahr gekauft.«
Ratlos wechselten die Wachen einige Blicke.
»Ihr habt«, fragte Kokina, »einen Gefangenen gemacht? Choma sagt, wenn wir mit dem reden wollen, warum nicht? Tja, und da sind wir.«
Magnus sagte: »Ich frag mich durch. Ich bin der Reporter. Ich beobachte die Leute – was sie machen, wohin sie gehen. Ich bin neugierig. Euer Landsmann hier«, dabei deutete er auf Kokina, »hat mir ein Spitzenhonorar versprochen, wenn ich ordentlich rangehe.«
»Und?«, fragte Kokina. »Willst du?«
»Oh ja«, sagte Magnus. Und holte aus. Kokina auch.
Schnell zogen sie die beiden bewusstlosen Soldaten hinter den Container.
Kokina legte sein Ohr an die Tür.
»Da drin ist noch einer.«
Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür und rief: »Raus! Raus! Raus! Sie sind da!«
81
Die vier Ausrufezeichen schossen durch die Dunkelheit. Die Tür flog auf. Tarassow riss den Mund auf und wollte einen Befehl brüllen. Dazu kam er nicht mehr. Die Kamera hinterließ einen hässlichen Abdruck auf seiner Stirn, und er fiel rücklings in den Container.
Drinnen streiften sie als Erstes Packer die gefrorenen Socken und Handschuhe von den Händen und Füßen. Der Trapper sagte: »Wir müssen ihn warm halten.«
Er zog seinen daunengefütterten Parker aus und hüllte Packers Oberkörper darin ein, Kokina machte es ihm nach, kümmerte sich um die Beine und die Hüften. Dann hob er Packers Kopf an und flößte ihm Tarassows heißen Kaffee ein, bis die Thermosflasche leer war. »Mach ja nicht schlapp«, munterte er ihn auf, »wir beide haben noch eine Rechnung offen.«
Minuten verstrichen. Langsam verzog sich der Nebel vor Packers Augen. Er fühlte, wie ihn eine wohlige Wärme durchströmte. Seine Haut begann zu kribbeln. Auch in seinen Händen und Füßen tat sich was. Warum musste er in seinem Leben bloß alles zweimal erleben? Zweimal sterben – auf dem Boot und als der alte Riesenberg ihn rauswarf und Carolin einen anderen heiratete. Zweimal beinahe erfrieren – und dann doch nicht. Zweimal eine Frau haben (Carolin und Jenna) – und dann doch nicht. Er versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Die Zeit arbeitete gegen sie, jede Minute konnte ihre letzte sein. Er versuchte es erneut.
»Streng dich an«, sagte Big Kokina. »Wenn sich die Gefangenen in den Gulags früher so angestellt hätten wie du, wären noch mehr von denen krepiert. Aber das waren echte Russen, die haben die Zähne zusammengebissen. Ein bisschen Eis und Kälte? Hat denen nichts ausgemacht. Na los, hau mir eine rein, wenn dir nicht gefällt, was ich sage, mach schon, beweg dich!«
Er redete so lange auf ihn ein, bis Packers ganzes System auf Wut und Überleben programmiert war. Endlich, beim dritten Versuch, blieb er auf wackligen Beinen stehen. Der Trapper und Kokina halfen ihm, in seine Sachen zu kommen, es dauerte lange.
Sie schafften die bewusstlosen Wachen in den Container.
Magnus
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