Kalt
vor der Kugel zu schützen. Der Lärm im Arbeitszimmer zwang ihn, sich damit abzufinden, dass er tatsächlich ebenso hilflos wie sein Bruder war.
Seine Mutter war tot, zehn Jahre schon, und alles, was auf ihren Tod gefolgt war, blieb unveränderbar. Nun musste er sich um die Lebenden kümmern.
Proctor dabei zu beobachten, wie dieser seine Spuren verwischte, interessierte Dylan nicht. Er wusste, wie der Schauplatz am Ende aussehen würde.
Stattdessen ging er zu der Ecke, in der der zehnjährige Shep sich vor und zurück wiegte und » Ratte, Maulwurf, Kröterich « m urmelte.
Das war zwar nicht gerade das, was Dylan erwartet hatte, aber es überraschte ihn auch nicht.
Nachdem Blair O ’ Conner ihrem jüngeren Sohn die gesammelten Werke von Dr. Seuss und ähnlichen Autoren vorgelesen hatte, war das erste Buch für ältere Kinder, das sie für ihn ausgewählt hatte, Kenneth Grahames Der Wind in den Weiden gewesen. Shep hatte die Geschichte von Ratte, Maulwurf, Kröterich, Dachs und den anderen Tieren des Wilden Waldes so begeistert, dass er seine Mutter in der Folgezeit dazu gebracht hatte, sie ihm immer wieder vorzulesen. Bis zu seinem zehnten Geburtstag hatte er sie dann schon mindestens zwanzigmal selbst gelesen.
Er brauchte die Gesellschaft von Ratte, Maulwurf und Kröterich und ihre Geschichte von Freundschaft und Hoffnung, er brauchte den Traum von einem Leben auf geschützten Waldlichtungen, in warmen, sicheren Höhlen und tief unter der Erde liegenden Bauen, die von heimeligen Lampen erleuchtet wurden. Er brauchte die Gewissheit, dass ihn nach aufregenden Abenteuern und schrecklichem Durcheinander immer ein Kreis aus Freunden erwartete, ein warmer Herd und ruhige Abende, an denen die Welt zur Größe einer Familie zusammenschrumpfte, in der es keinen einzigen Fremden gab.
Das konnte Dylan ihm nicht geben. Hätte man ein solches Leben in der Welt der Menschen überhaupt führen können, so wären wahrscheinlich nur Romanfiguren in seinen Genuss gekommen.
Im Flur zerbarst der Spiegel neben der Haustür. Wenn Dylans Erinnerung ihn nicht täuschte, war er mit der Vase traktiert worden, die auf dem Tischchen daneben gestanden hatte.
Von der Wohnzimmertür her rief Jilly ihm zu: » Er geht nach oben! «
» Lass ihn nur. Ich weiß, was er tun wird. Er wird das Schlafzimmer durchwühlen und Mamas Schmuck mitgehen lassen. Damit es möglichst wie ein Raubüberfall aussieht. Die Handtasche meiner Mutter ist auch da oben; er wird sie öffnen und das Geld aus dem Portemonnaie nehmen. «
Jilly und Shepherd kamen herein und stellten sich neben Dylan hinter den Shepherd aus einer lange vergangenen Zeit.
Der Ort hier war nicht die Stelle, an der man Shep in der Nacht des 12. Februar 1992 gefunden hatte. Dylan wollte jetzt hier bleiben, bis er herausbekommen hatte, ob es seinem Bruder erspart geblieben war, Zeuge dessen zu werden, was noch bevorstand.
Von oben hörte man das laute Krachen von Schubladen, die aus der Kommode gezogen und an die Wände geworfen wurden.
» Ratte, Maulwurf, Kröterich «, sagte der jüngere Shepherd, während der ältere Shep sich mit den Worten » Shep ist tapfer, Shep ist tapfer « vor einer grausamen Welt schützte. Vielleicht sprach er auch zu seinem jüngeren Ich.
Nach einer Weile hörte der Lärm oben auf. Wahrscheinlich hatte Proctor die Handtasche gefunden oder war gerade damit beschäftigt, sich Blair O ’ Conners Schmuck, der von keinem großen Wert war, in die Taschen zu stopfen.
Mit gesenktem Kopf verließ der jüngere Shep seine Ecke und trottete in der gewohnt demütigen Haltung zur Tür des Esszimmers, dicht gefolgt von seinem älteren Ich. Wie eine kleine Prozession von Mönchen sahen die beiden aus, wie zwei Angehörige einer vornehm verstörten Bruderschaft.
Dylan, der erleichtert aufatmete, hätte sich ihnen sowieso angeschlossen, doch als er Proctors Schritte wie beschlagene Hufe die Treppe herabdonnern hörte, folgte er seinem Bruder noch rascher und zog Jilly dabei mit sich aus dem Wohnzimmer.
Der zehnjährige Shep ging um den Esszimmertisch herum zum Stuhl. Dann setzte er sich und starrte auf sein Puzzle.
Die flauschigen Welpen in ihrem Korb boten ein Bild von Anmut und Frieden, das in dieser gewalttätigen, verwilderten Welt nicht existieren konnte. Es musste den Blick in eine Höhle des Wilden Waldes darstellen.
Flankiert von Jilly und Dylan, stand der ältere Shepherd auf der anderen Seite des Tisches und beobachtete sein jüngeres Ich.
Im Wohnzimmer
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