Kalt
auch, dass die Verpflichtung, die er gegenüber seinem Bruder spürte, das eigene Glück in einer Weise infrage stellte, die mancher Psychologe wohl als Verhaltensstörung bezeichnet hätte. Tatsächlich wartete jeder Tag mit einem Augenblick auf, in dem er sein Joch bereute und sich ausrechnete, dass er sich im Alter womöglich voll Bitterkeit vorwerfen würde, zu viele Jahre vergeudet zu haben.
Ein solches Leben brachte jedoch auch ganz besondere Belohnungen mit sich, zum Beispiel die Entdeckung, das s D ylan das Vertrauen seiner Mutter gerechtfertigt hatte. Mit einem Mal hatte die Beharrlichkeit, mit der er sich all die Jahre um seinen Bruder gekümmert hatte, eine unheimliche Dimension. Es war, als hätte er irgendwie von dem Versprechen gewusst, das seine sterbende Mutter in seinem Namen gegeben hatte, obwohl Shepherd nie davon gesprochen hatte. War es wohl möglich, dass Blair O ’ Conner ihn in Träumen, an die er sich nicht erinnerte, besucht hatte, um ihm mitzuteilen, wie sehr sie in liebte und welch Vertrauen sie in sein Pflichtgefühl setzte?
Zehn Jahre, wenn nicht länger, hatte Dylan geglaubt, die Frustrationen zu verstehen, mit denen Shepherd lebte. Er hatte geglaubt, voll und ganz das chronische Gefühl der Hilflosigkeit begreifen zu können, mit dem ein autistischer Mensch angesichts übermächtiger fremder Kräfte täglich kämpfte. Nun hatte sich herausgestellt, dass Dylans Verständnis bisher jämmerlich unvollständig gewesen war. Erst als er gezwungen gewesen war, hilflos dazustehen und mit ansehen zu müssen, wie seine Mutter erschossen wurde, erst als er vergeblich versucht hatte, sie im Augenblick ihres Todes zu halten, als er zum letzten Mal mit ihr hatte sprechen wollen, bevor sie starb, ohne sich hörbar machen zu können – erst in diesem schrecklichen Moment hatte er die ganze Ohnmacht verspürt, mit der sein Bruder schon immer lebte. Nun kniete Dylan neben seiner Mutter, starrte ihr wie gebannt in die glasigen Augen und zitterte vor Demütigung, Angst und Zorn. Dieser Zorn fand kein Ventil, weil er kein einfaches, leichtes Ziel hatte, sondern sich gegen Dylans eigene Schwäche richtete und gegen die Art und Weise, wie die Welt eben war und immer sein würde. Ein Wutschrei baute sich in Dylan auf, aber er ließ ihn nicht heraus, weil dieser Schrei in die falsche Zeit gehört hätte und sinnlos verhallt wäre – aber auch, weil es schwer gewesen wäre, ihm Einhalt zu gebieten, sobald er sich einmal Bahn gebrochen hätte.
Nicht allzu viel Blut. Dafür musste er dankbar sein.
Außerdem war seine Mutter rasch gestorben und hatte nicht lange leiden müssen.
Dann wurde ihm klar, welch gespenstisches Schauspiel nun folgen musste. » Nein «, sagte er leise.
*
Jilly, die Shepherd in den Armen hielt und ihm über die Schulter blickte, beobachtete Lincoln Proctor mit einem Abscheu, wie sie ihn bisher nur gegenüber den gemeinsten Handlungen ihres Vaters verspürt hatte. Da war es völlig gleichgültig, dass Proctor in zehn Jahren als rauchende Leiche in den Trümmern ihres Coupe De Ville liegen würde; sie verabscheute ihn deshalb kein bisschen weniger.
Nachdem er geschossen hatte, steckte Proctor die Pistole wieder in das Schulterhalfter, das er unter der Lederjacke trug. Offenbar vertraute er seiner Treffsicherheit voll und ganz.
Aus der Jackentasche zog er nun ein Paar Latexhandschuhe und streifte sie sich über. Den zehnjährigen Shep behielt er dabei ständig im Blick.
Obwohl Jilly gelernt hatte, die feinen Veränderungen in Shepherds verschlossenem Gesicht zu deuten, kam es ihr vor, als hätte der Tod seiner Mutter sein jüngeres Ich völlig unberührt gelassen. Was aber nicht stimmen konnte, immerhin hatte er Jilly und Dylan zehn Jahre später durch die Zeit reisen lassen, damit sie Zeugen der schrecklichen Tat wurden. Außerdem war sein älteres Ich mit spürbarem Schrecken zurückgekehrt und hatte sich ständig mit den Worten Shep ist tapfer Mut machen müssen.
Ausdruckslos, ohne Tränen und bebende Lippen, wandte der Junge sich vom Leichnam seiner Mutter ab und ging zur nächsten Ecke, wo er stehen blieb und die Wände anstarrte.
Überwältigt von einer traumatischen Erfahrung, reduzierte er seine Welt zu einem engen Raum, in dem er sich sicherer fühlte. Mit seinem Gram ging er offenbar genauso um.
Proctor spreizte die in Latex gehüllten Finger, während er hinter den Jungen trat und ihn betrachtete.
Der junge Shepherd wiegte sich langsam vor und zurück und begann
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