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Kalt

Kalt

Titel: Kalt
Autoren: Dean R. Koontz
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verfrühten Tod seiner Mutter, zwei Tage vor seinem neunzehnten Geburtstag. Shep war damals gerade zehn gewesen. Nach dieser ganzen Zeit wurde er von Sheps Bemerkungen oder seinem Verhalten nicht mehr so leicht überrascht wie früher. In seiner Jugend hatte er Sheps Verhalten manchmal sogar eher unheimlich als bloß seltsam empfunden, doch seit vielen Jahren hatte sein kranker Bruder nichts mehr getan, wobei sich ihm die Härchen im Nacken aufgestellt hätten – bis jetzt.
    » Beim Licht des Mondes. «
    Shepherds Körperhaltung war so steif und linkisch wie immer, aber seine momentane Nervosität war untypisch. Obwoh l s eine Stirn normalerweise so glatt war wie die eines heiteren Buddhas, lag sie nun in Falten, und sein Gesicht gab sich einer Wildheit hin, die er noch nie zur Schau gestellt hatte. Während er mit zusammengekniffenen Augen die Erscheinung anblickte, die nur er sehen konnte, kaute er an der Unterlippe und sah wütend und verängstigt aus. Seine Hände krampften sich zu Fäusten zusammen, und es hatte den Anschein, als wollte er auf jemanden einschlagen, obwohl Shepherd O ’ Conner noch nie zuvor die Hand im Zorn erhoben hatte.
    » Shep, was ist denn los? «
    Wenn man dem wahnsinnigen Arzt mit der Injektionsspritze Glauben schenken konnte, mussten sie hier weg, und zwar schnell. Ein rascher Aufbruch erforderte allerdings Sheps Mitwirkung. Der schien jedoch am Rande eines emotionalen Aufruhrs zu stehen, und wenn er sich nicht beruhigen ließ, war er in seiner Erregung womöglich schwierig zu handhaben. Er war nicht so groß wie Dylan, wog aber mit seinen eins achtundsiebzig immerhin zweiundsiebzig Kilo, weshalb man ihn nicht einfach hinten am Gürtel packen und wie einen Koffer aus dem Motelzimmer schleppen konnte. Wenn er beschloss, dass er nicht wegwollte, würde er die Arme um einen Bettpfosten legen oder sich in der Tür in einen menschlichen Enterhaken verwandeln, indem er sich mit Händen und Füßen am Rahmen festklammerte.
    » Shep? He, Shep, hörst du mich? «
    Der Junge schien Dylan nicht besser wahrzunehmen als während der Arbeit an seinem Puzzle. Kein Wunder, fiel die Interaktion mit anderen Menschen Shepherd doch auch keineswegs so leicht wie einem durchschnittlichen Zeitgenossen. Sie fiel ihm noch nicht einmal so leicht wie einem durchschnittlichen Einsiedler, der sein ganzes Leben in einer Höhle verbrachte. Manchmal gelang es ihm, einen Kontakt herzustellen, der dann häufig unangenehm intensiv war; den Großteil seines Lebens verbrachte er jedoch in einer Welt, die vollständig seine eigene war. Für Dylan blieb sie so unergründlich, als hätte sie sich in einem anderen Arm der Milchstraße, weit weg von der vertrauten Erde, um einen namenlosen Stern gedreht.
    Shep senkte den Kopf und beendete damit die Konfrontation mit der unsichtbaren Erscheinung. Obwohl sein Blick sich auf nichts anderes richtete als auf ein Stück nackten Teppichboden, weiteten sich nun seine zusammengekniffenen Augen, und der Mund wurde weich, so als wollte Shep gleich in Tränen ausbrechen. In dichter Folge zogen unterschiedliche Mienen wie eine Reihe sich kräuselnder Schleier über sein Gesicht, und bald hatte seine wütende Grimasse sich in einen kläglichen Ausdruck der Hilflosigkeit und der ängstlichen Verzweiflung verwandelt. Die Wildheit, die er eben noch so fest umklammert hatte, rann ihm durch die Finger, bis seine geballten Fäuste, die noch immer seitlich herabhingen, sich öffneten und er mit leeren Händen dastand.
    Als Dylan die Tränen seines Bruders sah, ging er zu ihm, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und sagte: » Schau mich an, kleiner Bruder. Sag mir, was los ist. Schau mich an, dann kannst du mich sehen und bei mir sein, Shep. Sei hier bei mir. «
    Manchmal konnte Shep ohne fremde Hilfe fast normal, wenn auch unbeholfen, mit Dylan und anderen Menschen kommunizieren. Meist jedoch musste man ihn an die Kommunikation heranführen, musste ihn beharrlich und geduldig ermutigen, eine Verbindung herzustellen und sie dann auch aufrechtzuerhalten.
    Ein Gespräch mit Shep hing häufig davon ab, ob es gelang, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, doch diesen Grad an Intimität ließ der Junge nur selten zu. Unmittelbar am Leben teilzunehmen, vermied er offenbar nicht nur wegen seiner schweren psychischen Störung und auch nicht nur, weil er krankhaft schüchtern war. Shep hatte schon in früher Kindheit damit begonnen, sich aus der Welt zurückzuziehen, un d m anchmal kam Dylan ein seltsamer
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