Kalt
Gedanke: Vielleicht hatte sein Bruder damals entdeckt, dass er jedem Menschen die Geheimnisse seiner Seele von den Augen ablesen konnte – und konnte es einfach nicht ertragen, was er da sah.
» Beim Licht des Mondes « , wiederholte Shep, diesmal mit auf den Boden geheftetem Blick. Sein Flüstern war zu einem leisen Murmeln geworden, und seine von Kummer erfüllte Stimme versagte mehr als einmal während dieser vier Worte.
Shep sprach nur selten, und wenn er es tat, gab er nie irgendwelches Geschwätz von sich, auch wenn es sich manchmal wie Geschwätz anhörte, das war so klar wie Kohlsuppe. Jede seiner Äußerungen hatte ein Motiv und einen Sinn, man musste nur danach suchen. Manchmal drückte er sich allerdings so geheimnisvoll aus, dass seine Botschaft unverständlich blieb, wohl auch, weil Dylan nicht geduldig und scharfsinnig genug war, um das Rätsel in den Worten seines Bruders zu lösen. Nun deuteten seine heftigen Gefühle darauf hin, dass das, was er mitteilen wollte, ungewöhnlich wichtig war, zumindest für ihn selbst.
» Schau mich an, Shep. Wir müssen miteinander sprechen. Geht das, Shepherd? «
Shep schüttelte den Kopf, vielleicht zur Abwehr dessen, was er auf dem Boden des Motelzimmers zu sehen schien, zur Abwehr der Vision, die ihm Tränen in die Augen getrieben hatte, vielleicht aber auch als Antwort auf die Frage seines Bruders.
Dylan griff Shepherd unters Kinn und hob behutsam dessen Kopf. » Was ist denn, hm? «
Womöglich konnte Shep das Kleingedruckte in der Seele seines Bruders lesen, doch selbst wenn der ihm direkt in die Augen blickte, sah er nichts als Geheimnisse, die schwieriger zu entziffern waren als altägyptische Hieroglyphen.
Allmählich versiegten Sheps Tränen, und während sein Blick wieder klar wurde, deklamierte er: » Mond, nächtliche s G estirn, Mondlampe, Riesenpomeranze, Himmelslaterne, gespenstische Galeone, heller Wanderer … «
Über dieses vertraute Verhalten, das entweder eine echte Besessenheit von Synonymen darstellte oder nur eine weitere Technik, einer sinnvollen Kommunikation auszuweichen, ärgerte sich Dylan selbst nach so vielen Jahren manchmal noch immer. Nun, da das unbekannte goldene Serum durch seinen Körper zirkulierte und da offenbar eine Horde skrupelloser Mörder vom warmen Wüstenwind herangeweht wurde, steigerte sein Ärger sich zusehends zu Gereiztheit und Wut.
» … Silberkugel, stille, glänzende Freundin, höchste Herrscherin wahrhafter Schwermut. «
Dylan hielt das Kinn seines Bruders noch immer mit der Hand nach oben, um ihn sanft zur Aufmerksamkeit zu zwingen. » Von wem stammt das Letzte – von Shakespeare? «, fragte er. » Hör bitte auf mit Shakespeare, Shep, und gib mir eine echte Antwort. Was ist los mit dir? Komm schon, hilf mir weiter. Was soll das mit dem Mond? Weshalb bist du so durcheinander? Was kann ich tun, damit ’ s dir wieder besser geht? «
Nachdem Shep seinen Vorrat an Synonymen und Metaphern für den Mond offenbar erschöpft hatte, wandte er sich als Nächstes dem Wortfeld zum Thema Licht zu. Die Nachdrücklichkeit seines Tons wies darauf hin, dass er seinen Worten eine größere Bedeutung verleihen wollte als gewöhnlich:
» Licht, Erleuchtung, leuchten, strahlen, Helligkeit, glimmern, gleißen, Gottes älteste Tochter … «
» Hör auf, Shep «, sagte Dylan bestimmt, ohne schroff zu werden. » Halt mir keinen Vortrag. Sprich mit mir. «
Shep gab sich keine Mühe, sich von seinem Bruder abzuwenden. Stattdessen schloss er einfach die Augen und machte damit jede Hoffnung zunichte, durch einen Blickkontakt eine sinnvolle Kommunikation herzustellen. » … Glanz, Abglanz, glänzen, glitzern, schimmern … «
» Hilf mir «, sagte Dylan eindringlich. » Pack dein Puzzle ein. «
» … flimmern, funkeln, flirren … «
Dylan blickte auf Sheps Socken hinunter. » Zieh bitte deine Schuhe an, Kleiner. «
» … Glut, glühen, nachglühen … «
» Pack dein Puzzle ein, und zieh deine Schuhe an. « Geduldiges Wiederholen veranlasste Shepherd gelegentlich zum Handeln. » Puzzle, Schuhe. Puzzle, Schuhe. «
» … Leuchtkraft, Leuchter, Blitzstrahl, Blitz «, fuhr Shepherd fort. Die Augen zuckten hinter den Lidern, als träumte er im Tiefschlaf vor sich hin.
Der eine Koffer stand am Fußende des Betts, der andere lag offen auf der Kommode. Dylan schloss ihn, nahm beide Gepäckstücke und ging zur Tür. » He, Shep! Puzzle, Schuhe. Puzzle, Schuhe. «
Ohne sich vom Fleck zu rühren, leierte Shep weiter: »
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