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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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menschliche Leben an sich suhlte oder wegen der Unmenschlichkeit der Menschen untereinander verzweifelte. Auf der individuellen Ebene veränderte sich das menschliche Leben Tag für Tag, ja Stunde um Stunde, und wenn man sich wegen eines Missgeschicks in Selbstmitleid wälzte, verpasste man womöglich die Gelegenheit für einen Befreiungsschlag. Außerdem gelang es der Spezies Homo sapiens ja, jeder unmenschlichen Tat hundert barmherzige Taten entgegenzusetzen. Gehörte man also zu den Leuten, die gern ins Brüten verfielen, so war es am vernünftigsten, sich mit der bemerkenswerten Freundlichkeit zu beschäftigen, mit der die meisten Menschen miteinander umgingen – und das in einer Gesellschaft, in der die kulturelle Elite die hergebrachte Moral ständig verspottete und Brutalität verherrlichte.
    In diesem Falle waren Dylans Optionen so empfindlich eingeschränkt, dass es ihm auch als ungeübtem Brüter rasch gelang, einen Schlachtplan zu entwickeln. Er beugte sich wieder vor und führte die Schneide des Messers an eine der Schlaufen aus glänzend schwarzem Klebeband, mit denen sein linkes Handgelenk an die Stuhllehne gefesselt war. Wie eine mit dem Kopf wackelnde Gans oder wie Shep, der manchmal Stunden damit verbrachte, eine mit dem Kopf wackelnde Gans zu imitieren, sägte Dylan mit dem Taschenmesser. Allmählich lösten sich die Fesseln, und sobald die linke Hand frei war, gab er das Messer von den Zähnen an die Finger weiter.
    Während Dylan eilig die verbliebenen Fesseln durchtrennte, veränderte der Puzzle-Junkie – der die Stücke des Bildes nun in einem Tempo einfügte, das selbst ein Stoff wie Speed nicht hätte bewirken können – seine absurde Litanei: »Didel-dudel-dinkel.«
    »Ich spür ’nen Druck im Mi ttelwinkel. «
    » Didel-dudel-dinkel. «
    » Ich glaub, ich muss mal pinkeln. «

6
    Jilly öffnete die Augen und sah durch einen Schleier, wie der Vertreter und sein eineiiger Zwilling sich über das Bett beugten, auf dem sie lag.
    Obwohl sie wusste, dass sie gute Gründe hatte, Angst zu haben, fürchtete sie sich nicht. Sie fühlte sich entspannt. Sie gähnte.
    Wenn der eine Zwillingsbruder böse war – und das war er zweifellos –, dann musste der andere gut sein, weshalb sie einen Beschützer in ihm hatte. In Filmen und oft auch in Büchern waren die Charaktereigenschaften genauso verteilt wie bei eineiigen Zwillingen: Auf je eine böse Figur kam eine gute.
    Im wirklichen Leben hatte sie noch nie mit Zwillingen zu tun gehabt. Sollte sie doch einmal auf welche treffen, würde sie nicht in der Lage sein, beiden zu vertrauen. In einem solchen Fall Vertrauen zu haben garantierte einem, dass man zu Tode geknüppelt wurde oder noch Übleres mitmachte – im zweiten Akt, im zwölften Kapitel, gewiss jedoch am Ende der Geschichte.
    Diese zwei Burschen sahen zwar gleichermaßen gütig aus, aber der eine löste gerade einen Gummischlauch, der um Jillys Arm gebunden war, während der zweite eine Injektion zu verabreichen schien. Keinen dieser interessanten Vorgänge konnte man gerechterweise als bösartig bezeichnen, aber beunruhigend waren sie zweifelsohne.
    » Wer von euch beiden wird mich niederknüppeln? «, fragte sie und hörte überrascht, dass sie eine schwere Zunge hatte, als hätte sie getrunken.
    Gleichzeitig und mit gleich erstaunter Miene schauten die Vertreterzwillinge sie an.
    » Ich muss euch warnen «, sagte sie, » ich kann nämlich Karaoke. «
    Während beide Zwillinge die rechte Hand auf dem Kolben der Spritze ließen, griffen sie mit der Linken synchron nach einem weißen Taschentuch. Das hatten sie phantastisch einstudiert.
    » Nicht Karaoke «, berichtigte Jilly sich, » Karate. « Das war zwar eine Lüge, aber sie glaubte, hinreichend überzeugend zu klingen, obwohl ihre Stimme sich noch immer belegt und seltsam anhörte. » Ich kann Karate. «
    Die verschwommenen Brüder sprachen mit vollkommener Harmonie, ihre Silben kamen absolut im selben Takt. » Schlafen Sie doch noch ein wenig junge Frau. Schlafen Sie, schlafen Sie nur. «
    Gemeinsam ließen die wunderbar synchronisierten Zwillinge ihre weißen Taschentücher durch die Luft sausen und so schwungvoll auf Jillys Gesicht landen, dass sie meinte, die Tücher würden sich in Tauben verwandeln, noch bevor sie ihre Haut berührten. Stattdessen wurde das feuchte, beißend nach Vergessen riechende Gewebe so schwarz wie Krähen, wie Raben, die Jilly auf Mitternachtsschwingen in eine tiefe Finsternis davontrugen.
    Waren ihre Augen

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