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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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sie herum verschwunden war.
    Nach wie vor schlugen Flügel in der Luft, noch lauter als zuvor und immer näher, sodass Jilly deutlich das charakteristische Flattern von Federn erkennen und daher sicher sein konnte, Vögel zu hören und nicht die ledrigen Schwingen von Fledermäusen. Ganz nahe stießen sie herab, trommelnd und mit dem unheimlich sausenden Geräusch von Fittichen, die sich wie japanische Fächer spreizten und falteten, und doch konnte Jilly sie nicht sehen.
    Immer weiter drehte Jilly sich suchend um, bis vor ihr wieder die offene Tür des Wagens auftauchte, hinter der Dylan und Shep noch immer auf dem Sitz des falschen Beichtstuhls saßen und wie eine Erscheinung strahlten. Dylan nahm Jillys Begegnung mit dem Unheimlichen nicht wahr; er war so weit von ihr getrennt, wie sein jüngerer Bruder vielleicht für immer verloren war für ihn. Sie aber konnte ihn nicht auf die Kerzen und die betende Frau aufmerksam machen, weil die Angst ihr die Stimme geraubt hatte und fast auch den Atem. Das rasende Flügelflattern wurde zu einem Sturm, der mit jeder Sekunde heftiger wurde, zu einem kreisenden Trommelwirbel, der ihren ganzen Körper erschütterte und auf ihre Knochen einhämmerte. Diese Geräusche, harsch wie klackende Zahnräder , drehten sie um und um, während der von den gespenstischen Flügeln aufgewühlte Wirbelwind ihr das Haar zerzauste und ihr ins Gesicht schlug, bis sie sich schließlich wieder dem Anblick der Votivkerzen und der Büßerin auf der Kirchenbank zugewendet hatte.
    Zack! Ein bleiches Etwas flammte vor Jillys Gesicht auf, sogleich gefolgt von einem helleren Blitz, einem federleichten Flackern, so leuchtend wie eine züngelnde Flamme. Dann wurde ein wildes Flirren von Tauben sichtbar, die Jilly umflatterten. Das wütende Flügelschlagen ließ an gehässige Schnabelhiebe denken, und Jilly hatte Angst um ihre Augen. Bevor sie die Hände heben konnte, um sich zu schützen, hallte ein scharfer Knall durch die Nacht, gewaltig wie die Peitsche eines Gottes, und erschreckte den Schwarm derart, dass er noch stürmischer umherflatterte. Eine Welle aus Schwingen überspülte Jillys Gesicht, und sie schrie auf, wenn auch lautlos, weil kein Korken je eine Flasche so gut verschlossen hatte, wie der Schrecken ihr die Kehle verstopfte. Besprengt von diesem Gischt aus Flügeln, blinzelte sie, darauf gefasst, geblendet zu werden, doch durch das Blinzeln wurden alle Vögel so schlagartig verscheucht, wie sie erschienen waren. Sie waren nicht mehr nur unsichtbar wie vorher, sondern verschwunden samt all ihrem Lärm und all ihrer Raserei.
    Verschwunden war auch der Kerzenständer in den Dünen, und die verschleierte Frau war samt der Bank, mit der sie gekommen war, in eine unbekannte Kirche zurückbefördert worden.
    Mit einem kurzen, scharfen Bellen sprang die aufgestaute Luft aus Jillys entkorkter Kehle, und beim ersten, zitternden Einatmen, das darauf folgte, entdeckte sie den allerletzten Geschmack, den sie sich gewünscht hätte. Blut. Sie spürte den feinen, aber charakteristischen und unverwechselbaren Geschmack, spürte den Geschmack von Schlächterei und Opfer, von Tragödien und Ruhmestaten – leicht metallisch mit eine m H auch Kupfer und einer Spur Eisen. Was ihr das Gesicht besprengt hatte, war mehr als eine Welle weißer Flügel gewesen. Mit bebenden, zaghaften Händen berührte sie den Hals, das Kinn und die Wangen, und als sie voller Ekel den Beweis auf ihren Fingern betrachtete, erkannte sie dieselbe Feuchtigkeit auf ihren Lippen und schmeckte dieselbe Substanz, die ihre Fingerspitzen bedeckte. Sie schrie, diesmal nicht lautlos.
     

12
    Schwärzer als die öde Landschaft lag die Straße im düsteren Schimmer des Mondes da. Manchmal sah sie so aus wie eine Spule, die sich entrollte, um Jilly und die beiden Brüder ins Chaos und ins Verderben zu führen. Dann wieder hatte es den Anschein, als löste die Straße sich aus diesem Chaos, um sich zu einer ordentlichen Kugel aufzurollen, auf der sie einem genau vorausgeplanten, unausweichlichen Schicksal entgegenfuhren.
    Jilly wusste nicht, welche der beiden Möglichkeiten ihr mehr Angst machte: in ein noch stachligeres und verworreneres Dickicht aus Schwierigkeiten zu gelangen, in ein Dornengestrüpp, in dem jede schmerzhaft stechende Wendung sie zu einer neuen, den klaren Verstand gefährdenden Begegnung mit dem Unbekannten führte – oder die Identität des grinsenden Mannes mit der Injektionsnadel herauszufinden und das Geheimnis der

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