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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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goldenen Flüssigkeit in der Spritze zu enthüllen.
    In fünfundzwanzig Lebensjahren hatte sie gelernt, dass es nicht immer – und nicht einmal oft – Frieden brachte, etwas zu begreifen. Seit sie mit ein paar Dosen Malzbier in ihr Motelzimmer zurückgekehrt war, steckte sie in einem Fegefeuer aus Unwissenheit und Verwirrung, in dem das Leben einem Albtraum mit offenen Augen oder zumindest einem schlimmen, quälenden Traum bei Nacht glich. Wenn sie jedoch irgendwann eine endgültige Lösung des Rätsels fand, so stellte sich womöglich heraus, dass sie in einer regelrechten Hölle gefangen war und sich sogar nach der relativen Ruhe und Behaglichkeit dieses nervenaufreibenden Fegefeuers zurücksehnte.
    Wie schon zuvor steuerte Dylan den Wagen auch jetzt, ohne ständig auf die Straße zu achten. Wiederholt schaute e r i n den Rückspiegel oder warf einen Blick über die rechte Schulter, um sich zu vergewissern, dass Shep sich nicht irgendwie Schaden zufügte. Inzwischen lenkten ihn allerdings gleich zwei Sorgenkinder vom Fahren ab. Seit Jillys dramatischer Darbietung am Straßenrand, bei der es um Vögel und Blut gegangen war, fühlte Dylan ihr gegenüber offenbar dieselbe brüderliche Verantwortung wie gegenüber Shepherd.
    » Und Sie haben es wirklich geschmeckt – das Blut, meine ich? «, fragte er. » Wirklich gerochen? «
    » Ja. Ich weiß schon, dass es nicht echt war. Man hat ’ s ja nicht gesehen. Aber es ist mir ausreichend echt vorgekommen. «
    » Sie haben die Vögel gehört, die Flügel gespürt. «
    » Richtig. «
    » Sind an Halluzinationen eigentlich normalerweise alle fünf Sinne beteiligt – das heißt, so vollständig beteiligt? «
    » Es war keine Halluzination «, sagte Jilly störrisch.
    » Tja, real war es jedenfalls nicht. «
    Jilly warf ihm einen feindseligen Blick zu und sah, dass er klugerweise die tödliche Gefahr erkannte, die ihm drohte, wenn er weiterhin behauptete, sie als Klapperschlangen schwingende Amazone des wilden Südwestens sei anfällig für Halluzinationen. Ihrer Ansicht nach war es von Halluzinationen nur noch ein kleiner Schritt bis zu so merkwürdigen weiblichen Beschwerden wie Hysterie, Ohnmachtsanfällen und anhaltender Melancholie.
    » Danke für das Kompliment «, blaffte sie, » aber ich bin weder hysterisch noch auf Alkoholentzug. Psychedelische Pilze konsumiere ich ebenfalls nicht, also trifft der Begriff Halluzination wohl einfach nicht zu. «
    » Dann bezeichnen Sie ’ s eben als Vision. «
    » Die Jungfrau von Orleans bin ich auch nicht. Gott schickt mir keine Botschaften. Aber lassen wir das, ich will nicht mehr darüber sprechen, jedenfalls nicht jetzt und auch in der nächsten halben Stunde nicht. «
    » Wir müssen … «
    » Ich hab gesagt, jetzt nicht. «
    » Aber … «
    » Ich habe Angst, okay? Ich habe Angst, und wenn wir die Sache totreden, ändert das auch nichts, also Pause. Pause. «
    Sie begriff wieso er sie mit neuer Besorgnis und sogar mit einem gewissen Misstrauen betrachtete, aber sie hatte keine Lust, als Objekt seiner Fürsorge zu dienen. Selbst das Mitgefühl von Freunden war für sie schon schwer zu ertragen, und die Anteilnahme von Fremden konnte leicht zu Mitleid degenerieren. Mitleid jedoch nahm sie von niemandem hin. Sie sträubte sich mit jeder Faser gegen den Gedanken, als schwach oder bedauernswert wahrgenommen zu werden, und sie reagierte äußerst ungehalten auf jedwede gönnerhafte Haltung ihr gegenüber.
    Dylans Blicke, die samt und sonders vor feuchter Anteilnahme glänzten, ärgerten Jilly sogar so sehr, dass sie bald verzweifelt versuchte, sich ihnen zu entziehen. Sie löste ihren Hosenträgergurt, zog die Beine an, sodass Fred den Fußraum vor dem Beifahrersitz ganz für sich hatte, und drehte sich auf ihrem Sitz halb zur Seite, um über Shep zu wachen. So konnte dessen Bruder sich auch besser auf die Straße konzentrieren.
    Dylan hatte Shep einen Verbandkasten überlassen. Zu Jillys Verblüffung hatte der junge Mann ihn auf dem Sitz neben sich geöffnet und verwendete seinen Inhalt nun zweckgemäß, wenn auch so extrem konzentriert und mit derart distanzierter Miene, dass er sie an eine Maschine erinnerte. Mit in Wasserstoffperoxid getauchten Tupfern entfernte er geduldig die störenden Blutklümpchen aus seinem linken Nasenloch, die es bei jedem Atemzug zum Pfeifen gebracht hatten. Dabei ging er so behutsam vor, dass der Blutstrom nicht wieder einsetzte. Sein Bruder hatte gesagt, die Nase sei bloß blutig, nicht

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