Kalt
aus, als strahlten die zwei Brüder und nicht etwa die kleine Lampe über ihnen.
Jilly hätte erwartet, dass Dylan bei dieser Szene die Rolle des Priesters spielte, weil von den beiden Shepherd die verlorene Seele zu sein schien. Indessen hatte Dylan den Gesichtsausdruck und die Haltung eines Büßers, während der ausdruckslose Blick seines Bruders weniger leer als kontemplativ wirkte. Als Shepherd langsam und rhythmisch zu nicken begann, sah er aus wie ein gütiger Pater in Soutane, der befugt war, die Absolution zu erteilen. Jilly spürte, dass dieser unerwartete Rollentausch eine tiefe Wahrheit offenbarte, obgleich sie nicht begriff, woraus diese bestehen mochte. Ebenso wenig verstand sie, wieso die Feinheiten der Beziehung zwischen diesen beiden Männern von derart großem Interesse für sie waren. Sie kamen ihr sogar wie der Schlüssel zur Rettung aus der verzweifelten Lage vor, in die sie unvermutet geraten war.
Die Sache wurde immer seltsamer, denn nun hörte Jilly auch noch das entzückend silberhelle Lachen von Kindern, obwohl gar keine Kinder da waren, und kaum ertönten diese musikalischen Freudenlaute, da wurden sie vom Geräusch flatternder Flügel begleitet. Als Jilly ins flimmernde Himmelsgewölbe blickte, konnte sie vor den Sternbildern keinen einzigen Vogelschatten erkennen, und doch nahm der Wirbel von Flügeln zu und mit ihm das Lachen, bis sie aufstand und sich langsam um sich selbst drehte, staunend und verwirrt.
Jilly fiel kein Wort ein, um das sonderbare Erlebnis zu beschreiben, das ihr widerfuhr. Halluzination war jedenfalls nicht die richtige Bezeichnung. Diese Geräusche und Düfte waren weder so traumhaft substanzlos noch so hyperrealistisch intensiv, wie sie es von einer Halluzination erwartet hätte; sie waren genauso konkret und lebendig wie die Bestandteile de r N acht, deren Wirklichkeit nicht anzuzweifeln war. Sie tönten also weder lauter noch leiser als das Grollen und Zischen des vorbeiziehenden Verkehrs, und ihr süßer Geruch war weder stärker noch schwächer als der Gestank der Abgasdämpfe.
Während Jilly sich noch immer zum Geräusch von Flügeln drehte, das sie umgab, bemerkte sie südlich von sich mehrere Reihen Kerzen in der dunklen Wüste. Kaum sechs Meter von der Leitplanke entfernt, erhob sich ein Ständer mit kleinen rubinroten Glasschälchen, in denen mindestens drei Dutzend Votivkerzen funkelten.
Wenn das Traumlichter waren, dann täuschten sie ihr Vorhandensein mit einem bemerkenswertem Respekt vor den physikalischen Gesetzen vor. Der Metallständer stand zwischen verstreuten, kümmerlichen Salbeibüscheln am unteren Ende einer sanft ansteigenden Düne und warf einen klaren Schatten, der durch die hellen Kerzen, die er trug, hervorgerufen wurde. Streunende Chimären aus reflektiertem Feuerschein schüttelten ihre Löwenmähnen und ließen ihre Schlangenschwänze über den Sand zucken. Die silbrig-grünen Blätter der Vegetation leckten an dem weinroten Licht und glänzten wie Zungen, die purpurroten Bordeauxwein verkosteten. Das Licht war nicht irrational über die Landschaft verteilt wie das einer Vision, deren Strahlen wohl jede Vernunft außer Acht gelassen hätte; es war im logischen Einklang mit jedem Element der Szenerie.
Ebenfalls im Süden, aber einige Meter östlich der Kerzen und noch näher an der Leitplanke, stand eine einzelne Kirchenbank, der es an ihrer Kirche ermangelte. Falls sie einem Altar mit dem Allerheiligsten zugewandt war, blieb dieser unsichtbar. Das eine Ende der langen Holzbank war im Sand einer Düne vergraben; auf dem anderen Ende saß eine Frau, die ein dunkles Kleid trug.
Durch diese Landschaft, bloß ohne Bank und Kerzen, waren einst Wildpferde gedonnert, und nun galoppierte Jillys Her z m it einem Geräusch dahin, das ihr so laut in den Ohren dröhnte wie Hufe, die über den flachen Wüstenboden trommelten. Der Angstschweiß, der ihr ausbrach, war eisiger als alles, was sie bei einem missglückten Auftritt je erlebt hatte. In jenen Fällen hatte sie sich nur vor der Demütigung gescheut, nun war sie von der Furcht ergriffen, den Verstand zu verlieren.
Das kohlrabenschwarze Haar der Frau auf der Bank fiel ihr bis zur Taille hinab. Sie trug ein blaues oder schwarzes Kleid und hatte den Kopf demütig mit einem weißen spanischen Seidenschleier verhüllt, der wie zufällig an der Seite ihres Gesichts herabhing und ihre Züge verbarg. Ins Gebet versunken, bemerkte sie offenbar weder Jilly noch die Tatsache, dass das Gotteshaus um
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