Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
immer besser, was? Jetzt sind Sie auch noch in der Lage, die Menschheit psychoanalytisch zu behandeln, wenn Sie nicht gerade Leute wie van Gogh in den Schatten stellen! «
    » Wenn Sie Ihren Blutdruck noch weiter aufpumpen «, sagte Dylan, » platzt Ihnen bald ’ ne Halsschlagader. «
    Jilly stieß mit zusammengebissenen Zähnen einen gequälten Schrei aus. Hätte sie den einfach geschluckt, wäre sie womöglich implodiert.
    » Ich sage doch bloß «, fuhr Dylan in einem aufreizend vernünftigen Ton fort, » dass wir vielleicht nur positiv denken müssen, damit das Schlimmste tatsächlich hinter uns liegt. Außerdem bringt es definitiv nicht das Mindeste, negativ zu denken. «
    Fast hätte Jilly die Beine vom Sitz genommen und in einem Tobsuchtsanfall auf den Wagenboden getrampelt, aber dann fiel ihr ein, dass der arme, wehrlose Fred dabei nur Schaden genommen hätte. Also atmete sie stattdessen tief durch und hielt Dylan dann entgegen: » Wenn es so leicht ist, wieso haben Sie dann zugelassen, dass Shepherd all die Jahre eine so elende Existenz fristet? Wieso haben Sie sich nicht einfach vorgestellt, dass er auf wundersame Weise seinen Autismus ablegt und ein normales Leben führt? «
    » Das habe ich mir ja vorgestellt «, entgegnete Dylan leise und mit einer Schmerzlichkeit, die einen unendlichen Kummer über den Zustand seines Bruders erkennen ließ. » Ich habe es mir wirklich lebhaft vorgestellt, von ganzem Herzen und an jedem Tag meines Lebens, so weit ich zurückdenken kann. «
    Der grenzenlose Himmel. Die unwegsame Wüste. Im Inneren des Wagens war ein weiter Raum entstanden, so schrecklich weit wie die gewaltige, leere Dunkelheit jenseits der Türen und Fenster, eine Weite, die Jilly selbst erschaffen hatte. Von Angst und Frustration verleitet, hatte sie gedankenlos die Grenze zwischen legitimem Widerspruch und ungerechtfertigter Gemeinheit überschritten und Dylan O ’ Conner gerade da einen Nadelstich versetzt, wo er schon am wundesten war. Obgleich sie nur eine Armeslänge voneinander entfernt waren, kam ihr die Distanz nun unüberbrückbar vor.
    Im grellen Licht der entgegenkommenden Scheinwerfer und im weicheren Schimmer des Armaturenbretts glänzten Dylans Augen, als hätte er so viele Tränen so lange unterdrückt, dass sich in seinem Blick nun ganze Wassermassen stauten. Jilly, die ihn jetzt mit mehr Mitgefühl betrachtete als bisher, glaubte trotz der wechselnden Beleuchtung zu erkennen, dass das, was wie Kummer ausgesehen hatte, eher ein schärferer Schmerz war – Gram, lange genährter und unerbittlicher Gram, als wäre sein Bruder nicht autistisch, sondern tot und für immer verloren.
    Jilly wusste nicht, was sie sagen sollte, um ihre Gemeinheit wieder gutzumachen. Egal, ob sie flüsterte oder brüllte, die üblichen Worte einer Entschuldigung hatten gewiss nicht genug Kraft, um den Abgrund zu überbrücken, den sie zwischen sich und Dylan O ’ Conner geschaffen hatte.
    Sie fühlte sich wie ein Haufen Unflat.
    Der grenzenlose Himmel. Die unwegsame Wüste. Das Bienensummen der Reifen und das Dröhnen des Motors schufen ein weißes Rauschen, das Jilly rasch ausblendete, bis sie das Gefühl hatte, in jener Totenstille dazusitzen, die auf der Oberfläche eines luftlosen Mondes herrschen musste. Sie hörte nicht einmal mehr das leise Strömen ihres Atems, das Pochen ihres Herzens oder den Gesang ihres alten Kirchenchors, der ihr sonst gelegentlich in den Sinn kam, wenn sie sich einsam und haltlos fühlte. Ihre Stimme war nicht gut genug gewesen, um ein Solo zu singen, aber sie hatte eine Begabung für Harmonie besessen, und mitten unter den Chormitgliedern, die alle gleich gekleidet waren und dasselbe Gesangbuch in den Händen hielten wie sie selbst, war sie von einem tiefen Gemeinschaftsgefühl gewärmt worden, das sie weder vorher noch nachher je erlebt hatte. Manchmal hatte Jilly den Eindruck, die furchtbar schwierige Aufgabe, eine Verbindung zu einem Publikum aus Fremden herzustellen und es gegen seinen Willen über die Dummheit und Gemeinheit der Welt lachen zu lassen, sei im Grunde viel einfacher als der Versuch, die Distanz zwischen zwei Menschen zu überbrücken, um wenigstens eine kleine Weile ein hauchdünnes Band zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. Der grenzenlose Himmel, die unwegsame Wüste und die Isolation jedes gepanzerten Herzens zeichneten sich durch dieselbe, fast undurchdringliche Abgeschiedenheit aus.
    Entlang des Seitenstreifens flackerten im dunklen Schotter hier und da

Weitere Kostenlose Bücher