Kaltblütig
Kind der Welt.«
Mrs. Hickock nahm ihre Brille ab, putzte die verschmierten Gläser, setzte sie wieder auf und rückte sie in ihrem runden, freundlichen Gesicht zurecht. »Sie dürfen Dick nicht danach beurteilen, was Sie im Gerichtssaal hören. Das Geplapper der Anwälte – die lassen ja kein gutes Haar an dem Jungen. Ich will das, was er getan hat, nicht entschuldigen. Ich muss immer an diese Familie denken und bete jeden Abend für sie. Aber ich bete auch für Dick. Und diesen Perry. Ich hätte ihn nicht hassen dürfen; inzwischen empfinde ich bloß noch Mitleid für ihn.
Und wissen Sie, was? Ich glaube, Mrs. Clutter würde es genauso gehen. Nach allem, was ich über sie gehört habe.«
Das Gericht hatte sich vertagt; die Stimmen der Zuschauer, die den Saal verließen, hallten durch den Gang vor der Toilettentür. Mrs. Hickock sagte, sie müsse jetzt zu ihrem Mann. »Er wird bald sterben. Ich glaube, er hat sich mit allem abgefunden.«
Viele Prozessbeobachter wunderten sich über den Auftritt Donald Cullivans aus Boston. Es war ihnen ein Rätsel, warum dieser biedere junge Katholik, ein erfolgreicher Ingenieur und Harvard-Absolvent, Ehemann und Vater dreier Kinder, ein ungebildetes, selbstmörderisches Halbblut, das er nur flüchtig kannte und seit neun Jahren nicht gesehen hatte, zu seinen Freunden zählte. Cullivan sagte dazu: »Meine Frau versteht es auch nicht. Im Grunde konnte ich es mir gar nicht leisten, hierherzukommen – es hat mich eine Woche Urlaub und nicht zuletzt eine Menge Geld gekostet, das wir eigentlich für andere Dinge brauchen. Andererseits hätte ich es mir auch nicht leisten können, nein zu sagen. Perrys Anwalt hatte mir geschrieben und mich gebeten, als Leumundszeuge aufzutreten; als ich den Brief las, war mir sofort klar: Ich muss es tun. Erstens weil ich Perry meine Freundschaft angeboten hatte. Und zweitens – nun ja, ich glaube an das ewige Leben. Jede Seele kann gerettet werden.«
Die Rettung einer Seele, namentlich der Perry Smiths, war ein Unterfangen, dem sich der zutiefst katholische Hilfssheriff und seine Frau unmöglich verschließen konnten – obwohl Perry Mrs. Meiers Vorschlag, Father Goubeaux, einen einheimischen Priester, zu konsultieren, schroff zurückgewiesen hatte. (»Mit Priestern und Nonnen habe ich Erfahrung«, sagte Perry. »Die Narben sieht man heute noch.«) Und während das Gericht übers Wochenende Pause machte, luden die Meiers Cullivan ein, am Sonntag mit dem Gefangenen in dessen Zelle zu essen.
Perry war entzückt, seinen Freund bewirten und gewissermaßen den Gastgeber spielen zu dürfen, und die Zusammenstellung des Menüs – Wildgans, gefüllt und gebraten, mit Sauce, Rahmkartoffeln und grünen Bohnen, Aspiksalat, warme Brötchen, kalte Milch, frisch gebackene Kirschtörtchen, Käse und Kaffee – schien ihm wichtiger als der Ausgang des Prozesses (über den er sich wohl keine allzu großen Illusionen machte: »Diese Bauerntrottel können uns doch gar nicht schnell genug an den Galgen bringen. Sie brauchen ihnen bloß in die Augen zu schauen. Ich bin garantiert nicht der einzige Killer im Gerichtssaal.«) Er verbrachte den ganzen Sonntagvormittag mit Vorbereitungen. Es war ein warmer Tag, leicht windig, und die knospenzarten Schatten der Zweige, die das vergitterte Zellenfenster streiften, zogen Perrys gezähmtes Eichhörnchen in ihren Bann. Big Red jagte die wogenden Muster, während sein Herrchen fegte und Staub wischte, den Fußboden schrubbte, die Toilette scheuerte und seine literarischen Ergüsse vom Schreibtisch räumte. Der Schreibtisch sollte als Esstisch dienen, und nachdem Perry ihn gedeckt hatte, sah er sehr einladend aus, denn Mrs. Meier hatte ein Leinentischtuch, gestärkte Servietten, ihr bestes Geschirr und Silberbesteck gestiftet.
Cullivan war beeindruckt – er pfiff bewundernd, als das Festmahl auf Tabletts hereingetragen wurde –, und bevor er sich setzte, bat er den Gastgeber, ein Tischgebet sprechen zu dürfen. Der Gastgeber ließ erhobenen Hauptes die Fingerknöchel knacken, während Cullivan mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen psalmodierte:
»Segne uns, o Herr, und diese deine Gaben, die wir durch deine Güte und die Gnade Christi, unseres Herrn, empfangen haben. Amen.« Perry brummte, seiner Ansicht nach gebühre diese Ehre einzig Mrs. Meier. »Sie hat die ganze Arbeit gemacht. Trotzdem«, sagte er, während er seinem Gast den Teller füllte, »schön, dass du da bist, Don. Du siehst noch genauso aus wie
Weitere Kostenlose Bücher