Kaltblütig
auch schon wieder geglättet. Mr. Hickock wurde entlassen, und Dr. W. Mitchell Jones nahm seinen Platz im Zeugenstand ein.
Dr. Jones stellte sich dem Gericht als »Mediziner mit dem Fachgebiet Psychiatrie« vor und setzte zum Beleg seiner Qualifikation hinzu, er habe seit 1956, da er als Assistent in die psychiatrische Abteilung des Topeka State Hospital gekommen sei, circa fünfzehnhundert Patienten behandelt. Seit zwei Jahren arbeite er am Larned State Hospital, wo er das Dillon Building leite, eine Station für kriminelle Geisteskranke.
Harrison Smith fragte den Zeugen: »Wie viele Mörder haben Sie bislang untersucht?«
»Etwa fünfundzwanzig.«
»Doktor, darf ich fragen, ob Sie meinen Mandanten Richard Eugene Hickock kennen?«
»Ja.«
»Hatten Sie Gelegenheit, ihn einer psychologischen Untersuchung zu unterziehen?«
»Jawohl … ich habe ein psychiatrisches Gutachten über Mr. Hickock erstellt.«
»Und haben Sie sich aufgrund Ihrer Untersuchung ein Urteil darüber bilden können, ob Mr. Hickock zum Zeitpunkt der Tat Recht und Unrecht unterscheiden konnte?«
Der Zeuge, ein kräftiger Mann von achtundzwanzig Jahren mit einem vollen, aber dennoch intelligenten, fein geschnittenen Gesicht, holte tief Luft, als wollte er zu einer ausführlichen Antwort anheben – worauf der Richter ihn ermahnte: »Sie dürfen die Frage mit ja oder nein beantworten, Doktor. Beschränken Sie sich bei Ihrer Antwort auf ein einfaches Ja oder Nein.«
»Ja.«
»Und wie lautet Ihr Urteil?«
»Ich glaube, daß Mr. Hickock nach den üblichen Maßstäben durchaus zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte.«
Infolge der Beschränkungen, die ihm die M’Naghten Rule (»nach den üblichen Maßstäben«) auferlegte, eine Formel, die sich gegenüber jeglicher Schattierung zwischen Schwarz und Weiß als farbenblind erweist, konnte Dr. Jones nicht anders antworten. Zum Leidwesen von Hickocks Anwalt, der ohne jede Aussicht auf Erfolg die Frage stellte: »Könnten Sie die Antwort vielleicht präzisieren?«
Es war aussichtslos, nicht etwa weil Dr. Jones sich geweigert hätte, ins Detail zu gehen, sondern weil die Anklage das Recht hatte, Einspruch zu erheben – was sie auch tat, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Gesetze des Staates Kansas als Antwort auf die betreffende Frage lediglich ja oder nein zulassen. Dem Einspruch wurde stattgegeben, der Zeuge entlassen. Hätte Dr. Jones weitersprechen dürfen, hätte er Folgendes zu Protokoll gegeben: »Richard Hickock ist überdurchschnittlich intelligent, hat eine rasche Auffassungsgabe und verfügt über ein umfangreiches Allgemeinwissen. Er nimmt wahr, was um ihn herum vorgeht, und lässt keinerlei Anzeichen von geistiger Verwirrung oder Desorientierung erkennen.
Er denkt klar und logisch und hat einen unverstellten Zugang zur Realität. Obwohl ich keines der gängigen Anzeichen für eine organische Hirnverletzung – Gedächtnisschwund, Agnosie, intellektueller Verfall – feststellen konnte, lässt sich diese Möglichkeit nicht ohne weiteres ausschließen. 1950 hat er eine schwere Kopfverletzung mit Gehirnerschütterung und mehrstündiger Bewusstlosigkeit erlitten – das habe ich anhand von Krankenhausunterlagen überprüft. Nach eigener Aussage leidet er seither an Ohnmachtsanfällen, zeitweiligem Gedächtnisverlust und Kopfschmerzen, und sein antisoziales Verhalten fällt größtenteils in diese Zeit. Da man ihn jedoch nie auf bleibende Gehirnschäden untersucht hat, ist die Erstellung eines definitiven Gutachtens leider nicht möglich … Hickock zeigt Anzeichen einer abnormen Affektivität. Dass er sich über sein Tun im Klaren war und die Tat dennoch beging, ist wahrscheinlich das deutlichste Indiz für diesen Sachverhalt. Er neigt zu impulsivem Handeln, ohne Rücksicht auf Konsequenzen oder negative Folgen für sich und andere. Er scheint unfähig, aus Erfahrungen zu lernen, und zeigt ein ungewöhnliches Verhaltensmuster in Form gelegentlicher Perioden produktiver Aktivität, gefolgt von grob fahrlässigem Handeln.
Im Unterschied zu normaleren Menschen ist er außerstande, mit Enttäuschungen und Misserfolgen fertig zu werden, und es fällt ihm schwer, sich von diesen Gefühlen anders zu befreien als durch antisoziales Verhalten …
Seine Selbstachtung ist sehr gering, und insgeheim fühlt er sich anderen, nicht zuletzt in sexueller Hinsicht, unterlegen. Diese Gefühle scheint er durch Träume von Reichtum und Macht zu kompensieren, durch die Neigung, mit seinen
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