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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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– er war stark und in bester Verfassung. Und Kenyon erst – genauso groß wie sein Vater, wenn nicht größer, mit breiten Schultern. Ein einzelner Mann hätte gegen die beiden, ob mit oder ohne Waffe, doch nicht den Hauch einer Chance gehabt.«
    Außerdem gab es Grund zu der Annahme, dass alle vier von derselben Person gefesselt worden waren: In allen vier Fällen wurde der gleiche Knoten, ein sogenannter Halber Schlag, benutzt.
    Dewey – und mit ihm die Mehrheit seiner Kollegen – bevorzugte die zweite Hypothese, die der ersten in vielen wesentlichen Punkten glich, mit dem grundlegenden Unterschied, dass der Killer nicht allein war, sondern einen Komplizen hatte, der ihm half, die Familie zu überwältigen, zu knebeln und zu fesseln. Doch auch diese Theorie hatte ihre Schwächen. So leuchtete Dewey nicht recht ein, »wie zwei Personen dasselbe Maß an Aggression, an psychopathischer Wut entwickeln können, wie sie eine solche Tat erfordert. Angenommen«, setzte er erklärend hinzu, »der Mörder ist ein Bekannter der Familie, jemand aus dem Ort; und angenommen, er ist normal, ein ganz normaler Mensch, der jedoch von einer fixen Idee besessen ist, einem irrsinnigen Hass auf die Clutters oder einen der Clutters – wo sollte der einen Partner finden, der verrückt genug ist, ihm zu helfen? Das ergibt doch keinen Sinn. Das passt hinten und vorne nicht zusammen.«
    Nach der Pressekonferenz zog Dewey sich in ein Dienstzimmer zurück, das ihm der Sheriff zeitweilig als Büro überlassen hatte. Darin standen ein Schreibtisch und zwei Stühle. Der Schreibtisch war übersät mit Gegenständen, die sich eines Tages hoffentlich als Beweise vor Gericht verwerten ließen: das Klebeband und die Stricke, die den Opfern abgenommen und in Plastikbeuteln versiegelt worden waren (weder das eine noch das andere schien als Indiz besonders vielversprechend, denn bei beiden handelte es sich um gängige, in den gesamten USA erhältliche Produkte), und Bilder vom Tatort, die ein Polizeifotograf geschossen hatte – zwanzig Hochglanz-Vergrößerungen von Mr. Clutters zertrümmertem Schädel, von dem entstellten Gesicht seines Sohnes, von Nancys gefesselten Händen, von den todesstumpfen, weit aufgerissenen Augen ihrer Mutter und so fort. Dewey sollte noch viele Stunden über diesen Fotos zubringen, in der Hoffnung, dass er »plötzlich etwas sehen«, ein bedeutsames Detail zum Vorschein kommen würde. »Wie bei diesen Suchrätseln. Bei denen es immer heißt: ›Wie viele Tiere erkennen Sie auf diesem Bild?‹ Und genau darum geht es hier. Die verborgenen Tiere zu entdecken. Mein Gespür sagt mir, dass sie da sind – ich muss sie nur finden.« Und tatsächlich hatte eines der Fotos, eine Großaufnahme von Mr. Clutter auf dem Matratzenkarton, bereits einen wertvollen Hinweis erbracht: Fußspuren, die undeutlichen Abdrücke von Schuhsohlen mit Rautenmuster. Der Film hatte festgehalten, was mit bloßem Auge nicht zu erkennen war; das grelle Blitzlicht hatte die Umrisse plastisch und gestochen scharf zutage treten lassen. Diese Spuren waren, neben einem weiteren, auf demselben Karton entdeckten Abdruck – der blutigen Hinterlassenschaft einer halben »Cat’s-Paw«-Sohle –, die einzigen »brauchbaren Indizien«, mit denen die Ermittler bislang aufwarten konnten. Was sie jedoch wohlweislich unterließen; Dewey und sein Team hatten beschlossen, diese Informationen vorerst geheim zu halten.
    Unter den Gegenständen auf Deweys Schreibtisch war auch Nancy Clutters Tagebuch. Nachdem er es zunächst nur flüchtig durchgeblättert hatte, machte er sich jetzt an die gründliche Lektüre der täglichen Einträge, die an ihrem dreizehnten Geburtstag begannen und etwa zwei Monate vor ihrem siebzehnten endeten; die wenig aufregenden Mitteilungen eines intelligenten Kindes, das Tiere liebte, gerne las, kochte, nähte, tanzte, ritt – ein ebenso beliebtes wie bildhübsches jungfräuliches Mädchen, das zwar »Spaß am Flirten« hatte, aber »nur Bobby wirklich und wahrhaftig liebte«. Dewey las den letzten Eintrag zuerst. Er bestand aus drei Zeilen, geschrieben ein oder zwei Stunden vor ihrem Tod: »Habe Jolene K.
    gezeigt, wie man einen Kirschkuchen backt. Mit Roxie geübt. Bobby war zum Fernsehen hier und ist um elf gegangen.«
    Der kleine Rupp, der die Familie als Letzter lebend gesehen hatte, war bereits eingehend befragt worden, und obwohl er glaubhaft versichert hatte, bloß »einen ganz normalen Abend« bei den Clutters verbracht zu haben,

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