Kaltblütig
wollte man ihn bei einem zweiten Verhör einem Lügendetektortest unterziehen. Die Polizei konnte ihn als Täter noch nicht mit Gewissheit ausschließen. Zwar war Dewey davon überzeugt, dass der Junge »mit der Sache nichts zu tun hatte«; dennoch war Bobby, in dieser Anfangsphase der Ermittlungen, der einzige Verdächtige mit einem – wenn auch eher dürftigen – Motiv, das sich in erster Linie aus diversen Anspielungen in Nancys Tagebuch ergab: So hatte ihr Vater sie nachdrücklich ermahnt, mit Bobby »Schluss zu machen«, sich »nicht mehr so oft mit ihm zu treffen«, weil die Clutters Methodisten, die Rupps hingegen Katholiken waren – ein Umstand, der eine spätere Heirat in seinen Augen ganz und gar unmöglich machte.
Die Tagebuchnotiz jedoch, die Dewey am erfolgversprechendsten erschien, stand mit diesem familiären Konfessionskonflikt in keinerlei Zusammenhang. Sie betraf vielmehr ein Tier, den mysteriösen Tod von Nancys Lieblingskatze Boobs, die sie laut Tagebuch zwei Wochen vor ihrer Ermordung »in der Scheune« liegend aufgefunden hatte, vergiftet, wie sie annahm (ohne diese Vermutung näher zu begründen): »Arme Boobs. Ich habe sie an einem besonderen Ort begraben.« Dewey maß diesem Eintrag »große Bedeutung« zu. Wenn die Katze wirklich vergiftet worden war, handelte es sich bei dieser Tat dann nicht vielleicht um ein kleines, maliziöses Vorspiel zu den Morden? Er beschloss, den »besonderen Ort«, an dem Nancy das Tier begraben hatte, ausfindig zu machen, und wenn er dazu die gesamte River Valley Farm umpflügen musste.
Während Dewey mit dem Tagebuch beschäftigt war, fuhren seine wichtigsten Mitarbeiter, die Agenten Church, Duntz und Nye, kreuz und quer durch die Umgebung und sprachen, so Duntz, »mit jedem, der uns etwas sagen konnte«: mit dem Kollegium der Holcomb School, die Nancy und Kenyon, beide Einserschüler, besucht hatten, mit der Belegschaft der River Valley Farm (die im Frühling und Sommer bis zu achtzehn Angestellte umfasste, jetzt, in der Brachzeit, aber nur noch aus Gerald Van Vleet, drei Knechten sowie Mrs. Helm bestand), mit Freunden der Opfer, ihren Nachbarn und nicht zuletzt ihren Verwandten. Von nah und fern waren etwa zwanzig Familienmitglieder zum Begräbnis angereist, das am Mittwochvormittag stattfinden sollte.
Harold Nye, der Jüngste der drei KBI-Beamten, ein energischer kleiner Mann von vierunddreißig Jahren mit ruhelosen, misstrauischen Augen, spitzer Nase, spitzem Kinn und scharfem Verstand, hatte die nach eigener Aussage »verdammt heikle Aufgabe«, die Angehörigen der Clutters zu vernehmen: »Es ist für beide Seiten eine Qual.
Aber in einem Mordfall kann man auf die Gefühle der Hinterbliebenen, auf ihre Privatsphäre und ihre Trauer keine Rücksicht nehmen. Man muss ihnen diese Fragen stellen. Und einige davon gehen schwer an die Substanz.«
Doch keiner der Befragten und keine der gestellten Fragen lieferte nützliche Erkenntnisse (»Ich wollte die emotionalen Hintergründe durchleuchten. Ich dachte, vielleicht steckt eine andere Frau dahinter – eine Dreiecksgeschichte. Schließlich war Mr. Clutter noch relativ jung und kerngesund, seine Frau dagegen ein Pflegefall, außerdem schliefen sie getrennt …«); nicht einmal die beiden Töchter konnten sich erklären, wie es zu diesem Verbrechen hatte kommen können. Nye fasste das Ergebnis seiner Ermittlungen wie folgt zusammen: »Kein Mensch hätte je vermutet, dass ausgerechnet die Clutters eines Tages einem Mord zum Opfer fallen würden.«
Als die drei Agenten abends in Deweys Büro zusammentrafen, stellte sich heraus, dass Duntz und Church mehr Glück gehabt hatten als Nye – Brother Nye, wie die anderen ihn nannten. (Die Angehörigen des FBI haben eine besondere Vorliebe für Spitznamen; so heißt Duntz, ein stämmiger, aber erstaunlich leichtfüßiger Bursche mit breitem Katergesicht, bei allen nur Old Man, obwohl er noch keine fünfzig ist, und Church, um die sechzig, ein Mann mit rosarotem Teint, der zwar wie ein Professor aussieht, aber als »ein zäher Knochen« und »der schnellste Schütze in ganz Kansas« gilt, wird von seinen Kollegen nur Curly – Lockenkopf – genannt, denn er ist teilweise kahl.) Die beiden waren bei ihren Untersuchungen jeweils auf eine »heiße Spur« gestoßen.
Duntz’ Geschichte drehte sich um einen Vater und seinen Sohn, die hier nur John sr. und John jr. heißen sollen. Vor einigen Jahren hatte John sr. mit Mr. Clutter ein kleineres Geschäft gemacht, über
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