Kaltblütig
schließlich nicht mehr aushielt. Meine Hände schlossen sich um seinen Hals. Meine Hände – aber ich hatte sie nicht in der Gewalt. Sie wollten ihn erwürgen. Aber Dad ist wendig, ein erfahrener Ringer. Er riss sich los, holte sein Gewehr und richtete es auf mich. ›Sieh mich an, Perry. Denn ich bin das Letzte, was du in diesem Leben sehen wirst.‹ Ich rührte mich nicht von der Stelle. Und er drückte ab.
Einmal. Zweimal. Und als er merkte, dass das Gewehr gar nicht geladen war, fing er an zu weinen. Saß da und heulte wie ein kleines Kind. Wie konnte ich ihm da noch böse sein? Er tat mir leid. Alles tat mir leid. Aber es hatte keinen Zweck – es gab nichts mehr zu sagen. Ich ging spazieren. Es war April, aber die Wälder waren noch tief verschneit. Ich lief stundenlang vor mich hin. Als ich bei Einbruch der Nacht zurückkam, war die Hütte dunkel, und alle Türen war verriegelt. Und meine Sachen lagen draußen im Schnee. Wo Dad sie hingeworfen hatte.
Bücher. Klamotten. Alles. Ich ließ sie einfach liegen. Bis auf die Gitarre. Ich schnappte mir die Gitarre und marschierte den Highway entlang. Ohne einen Dollar in der Tasche. Gegen Mitternacht hielt ein Lastwagen und nahm mich mit. Der Fahrer fragte, wohin ich wollte. Ich sagte: ›Mir egal. Bloß weg von hier.‹«
Nachdem er wiederum einige Wochen bei der Familie Jones Zuflucht gefunden hatte, fasste Perry sein nächstes Ziel ins Auge – Worcester, Massachusetts, wo er einen »Kumpel aus der Army« besuchen wollte, der ihn hoffentlich mit offenen Armen willkommen heißen und ihm »einen gut bezahlten Job« verschaffen würde. Seine Fahrt gen Osten zwang ihn jedoch zu diversen Umwegen; er arbeitete als Tellerwäscher in Omaha, als Tankwart in Oklahoma und einen Monat lang als Farmhelfer in Texas.
Im Juli 1955 führte ihn sein Weg nach Worcester auch durch Phillipsburg, eine kleine Stadt in Kansas, und dort ereilte ihn das »Schicksal« in Gestalt »schlechter Gesellschaft«. »Er hieß Smith«, sagte Perry. »Genau wie ich. Seinen Vornamen hab ich vergessen. Ich hatte ihn irgendwo aufgegabelt, und er hatte einen Wagen und wollte mich bis nach Chicago mitnehmen. Jedenfalls kamen wir in dieses Kaff in Kansas, Phillipsburg, und hielten an, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Ich glaube, es war ein Sonntag. Die Läden waren zu. Die Straßen menschenleer. Mein Freund, dieses Genie, schaute sich um und machte einen Vorschlag.« Er schlug vor, in das nahe gelegene Gebäude der Chandler Sales Company einzubrechen. Perry willigte ein, und so verschafften sie sich Zutritt zu den verlassenen Geschäftsräumen und stahlen eine Reihe von Schreibund Rechenmaschinen. Es wäre vermutlich alles gut gegangen, hätten die Diebe ein paar Tage später in Saint Joseph, Missouri, nicht eine rote Ampel überfahren. »Der Kram war noch im Wagen. Der Bulle, der uns anhielt, wollte wissen, woher wir die Sachen hatten. Er überprüfte unsere Angaben, und dann wurden wir nach Phillipsburg, Kansas, ›überstellt‹, wie man so sagt. Wo es übrigens einen hübschen kleinen Knast gibt. Wenn man Knaste mag.«
Binnen achtundvierzig Stunden waren Perry und sein Begleiter durch ein offenes Fenster ins Freie geklettert und mit einem gestohlenen Wagen in nordöstlicher Richtung nach McCook, Nebraska, unterwegs. »Kurz darauf haben Mr. Smith und ich uns dann getrennt. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Wir haben es beide auf die Fahndungsliste des FBI geschafft. Aber soviel ich weiß, haben sie ihn nie geschnappt.«
An einem regnerischen Novembernachmittag setzte ein Greyhound-Bus Perry in Worcester ab, einer Arbeiterstadt in Massachusetts, deren steile, hügelige Straßen selbst bei schönstem Wetter feindselig und trostlos wirken. »Ich fand die Adresse, die mir mein Freund gegeben hatte.
Mein alter Kumpel aus Korea. Aber die Leute da meinten, er wäre schon vor einem halben Jahr weggezogen, wohin, wussten sie nicht. Pech gehabt, große Enttäuschung, Weltuntergang et cetera pp. Also machte ich mich auf die Suche nach einem Schnapsladen, kaufte mir eine Zweiliterpulle roten Italiener, setzte mich in den Busbahnhof, trank meinen Wein und wärmte mich ein bisschen auf.
Ich ließ es mir gutgehen, bis plötzlich ein Bulle vor mir stand und mich wegen Landstreicherei hochnahm.« Bei der Polizei gab er sich als »Bob Turner« aus – ein Name, den er angenommen hatte, weil das FBI nach ihm fahndete. Er wurde zu vierzehn Tagen Haft und einer Geldbuße von zehn Dollar
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