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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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schrecklichen Schicksal, das den vier Kindern von Florence Buckskin und Tex John Smith bestimmt schien?
    Der Älteste, ihr geliebter Bruder, hatte sich erschossen; Fern war aus dem Fenster gestürzt oder gesprungen; und Perry war gewalttätig, ein Krimineller. Insofern war sie die einzige Überlebende; und sie quälte der Gedanke, dass früher oder später auch sie unter die Räder kommen und verrückt werden, unheilbar erkranken oder bei einem Brand alles verlieren würde, was ihr lieb und teuer war – Haus, Mann und Kinder.
    Ihr Mann war auf Geschäftsreise, und wenn sie allein war, trank sie eigentlich nie. Heute Abend jedoch gönnte sie sich einen steifen Drink, legte sich auf die Wohnzimmercouch und blätterte in einem Fotoalbum.
    Ein Bild ihres Vaters nahm die ganze erste Seite ein – ein Atelierporträt von 1922, dem Jahr seiner Eheschließung mit der jungen indianischen Rodeoreiterin Miss Florence Buckskin. Das Foto faszinierte Mrs. Johnson immer wieder. Es führte ihr vor Augen, warum ihre Mutter ihren Vater geheiratet hatte, obwohl die beiden im Grunde nicht zusammenpassten. Der junge Mann auf dem Bild strotzte vor männlichem Charme. Alles an ihm – der stolz gereckte Kopf mit dem rötlichblonden Haar, das leicht zusammengekniffene linke Auge (als visierte er ein Ziel an), das winzige Cowboytuch, das er um den Hals geknotet trug – war außerordentlich attraktiv. Zwar hegte Mrs. Johnson ihrem Vater gegenüber eine durchaus zwiespältige Haltung, doch eines an ihm hatte sie immer schon bewundert – seine innere Stärke. Sie wusste, wie exzentrisch er auf andere Menschen wirkte und nicht zuletzt auch auf sie selbst. Trotzdem, er war »ein richtiger Mann«. Dem alles gelang, was er anpackte. Wenn er einen Baum fällte, fiel der genau an die gewünschte Stelle.
    Er konnte einen Bären häuten, eine Uhr reparieren, ein Haus bauen, einen Kuchen backen, eine Socke stopfen oder mit einem Stück Schnur und einer gebogenen Nadel eine Forelle fangen. Einmal hatte er ganz allein in der Wildnis von Alaska überwintert.
    Allein: Genau so sollten solche Männer leben, dachte Mrs. Johnson. Frauen, Kinder, ein bescheidenes Leben, alles das ist nichts für sie.
    Sie überflog einige Seiten mit Schnappschüssen aus ihrer Kindheit – Bilder aus Utah und Nevada, aus Idaho und Oregon. Die Rodeolaufbahn von »Tex & Flo« war beendet, und die Familie zog in einem alten Truck durchs Land und suchte Arbeit, die 1933 schwer zu finden war.
    »Familie Tex John Smith beim Beerenpflücken in Oregon 1933« stand unter einem Schnappschuss von vier barfüßigen, latzbehosten Kindern mit mürrischen, durchweg erschöpften Gesichtern. Beeren oder trockenes, in süßer Kondensmilch eingeweichtes Brot waren oft das Einzige, was es zu essen gab. Barbara Johnson dachte daran, wie sich die Familie einmal tagelang von faulen Bananen hatte ernähren müssen, wovon Perry Magenkrämpfe bekommen hatte; er schrie die ganze Nacht, während Bobo – wie Barbara genannt wurde – weinte, aus Angst, dass Perry sterben würde.
    Bobo war drei Jahre älter als Perry und liebte ihn über alles; er war ihr einziges Spielzeug, eine Puppe, die sie schrubbte und kämmte und küsste und mitunter auch schlug. Hier war ein Bild von ihnen beiden, wie sie nackt in den diamantglitzernden Fluten eines Flüsschens in Colorado badeten, der Bruder ein blähbäuchiger, sonnenverbrannter Amor, der sich an die Hand seiner Schwester klammerte und kicherte, als kitzelte ihn der sprudelnde Bach mit unsichtbaren Fingern. Auf einem anderen Foto (Mrs. Johnson war sich nicht ganz sicher, aber es war vermutlich auf einer abgelegenen Ranch in Nevada aufgenommen worden, wo die Familie damals wohnte, als ein letzter Kampf zwischen den Eltern, bei dem Reitpeitschen, kochendes Wasser und Petroleumlampen als Waffen zum Einsatz kamen, der Ehe endgültig den Garaus machte) sitzen Perry und sie auf einem Pony, Kopf an Kopf, Wange an Wange, im Hintergrund rot glühend karge Berge.
    Später, als die Kinder mit ihrer Mutter nach San Francisco gezogen waren, erkaltete Bobos Liebe zu dem kleinen Jungen, bis sie schließlich ganz erlosch. Er war nicht mehr ihr Baby, sondern ein Wildfang, ein Räuber, ein Dieb. Zum ersten Mal festgenommen wurde er am 27. Oktober 1936, seinem achten Geburtstag. Nach einer Odyssee durch etliche Heime und Besserungsanstalten erhielt sein Vater das Sorgerecht für ihn zurück, und Bobo sah Perry jahrelang nicht wieder, außer auf den Fotos, die Tex John seinen

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