Kaltblütig
fast schon pathologische Leidenschaft. Was die Kleine anging, sie musste ihn geliebt haben, abgöttisch geliebt haben, sonst hätte sie bestimmt anders gehandelt.
Wenn Jimmy ihr doch bloß geglaubt hätte! Oder imstande gewesen wäre, ihr zu glauben. Aber die Eifersucht hielt ihn gefangen. Der Gedanke an die Männer, mit denen sie vor ihrer Ehe geschlafen hatte, quälte ihn; schlimmer, er war überzeugt, dass sie auch jetzt noch andere Partner hatte – dass sie ihn immer, wenn er auf See war oder sie tagsüber allein ließ, mit einer Vielzahl von Liebhabern betrog, deren Existenz zuzugeben er sie unablässig drängte. Schließlich richtete sie ein Gewehr auf ihre Stirn und betätigte den Abzug mit dem großen Zeh. Als Jimmy sie fand, holte er nicht die Polizei. Er hob sie auf, trug sie zum Bett und legte sich neben sie. Am anderen Morgen, bei Tagesanbruch, lud er die Waffe und erschoss sich.
Gegenüber von dem Bild mit Jimmy und seiner Frau klebte ein Foto von Perry in Uniform. Es war aus einer Zeitung ausgeschnitten, und daneben stand folgender kleiner Text: »Hauptquartier, United States Army, Alaska. Pvt. Perry E. Smith, 23, erster kampferprobter Teilnehmer des Koreakriegs aus Anchorage, Alaska, wird bei seiner Ankunft auf dem Luftwaffenstützpunkt Elmendorf von Presseoffizier Captain Mason in Empfang genommen.
Smith diente fünfzehn Monate als Feldpionier bei der 24. Division. Der Flug von Seattle nach Anchorage war ein Geschenk der Pacific Northern Airlines. Die Stewardess Miss Lynn Marquis heißt ihn lächelnd willkommen (offizielles Foto der U.S. Army).« Captain Mason hat die Hand ausgestreckt und sieht Private Smith an, doch Private Smith sieht in die Kamera. In seinem Gesicht vermochte Mrs. Johnson statt Dankbarkeit nur Arroganz, statt Stolz nur ungeheuren Dünkel zu entdecken. Es war durchaus denkbar, dass er einen ihm unbekannten Mann von einer Brücke geworfen hatte. Ja, natürlich. Sie hatte nie daran gezweifelt.
Sie klappte das Album zu und schaltete den Fernseher ein, doch auch das brachte sie nicht auf andere Gedanken.
Angenommen, er kam wirklich? Die Detectives hatten sie gefunden; warum also nicht auch Perry? Von ihr brauchte er keine Hilfe zu erwarten; sie würde ihn nicht einmal hereinlassen. Die Haustür war verschlossen, nicht aber die Tür zum Garten. Weißer Küstennebel lag über dem Garten, als hätten sich Geister dort versammelt: Mama und Jimmy und Fern. Als Mrs. Johnson die Tür verriegelte, gedachte sie nicht nur der Toten, sondern auch der Lebenden.
Ein Wolkenbruch. Regen. Wie aus Eimern. Dick rannte.
Auch Perry rannte, aber er konnte nicht so schnell; er hatte kürzere Beine und schleppte noch dazu den Koffer.
Dick erreichte den Unterstand – eine Scheune unweit des Highways – lange vor ihm. Nachdem sie die Nacht in einer Unterkunft der Heilsarmee in Omaha verbracht hatten, waren sie von einem Lastwagenfahrer über die Grenze von Nebraska nach Iowa mitgenommen worden.
Seit ein paar Stunden waren sie allerdings wieder zu Fuß unterwegs. Als es zu regnen anfing, befanden sie sich sechzehn Meilen nördlich von einer kleinen Ortschaft namens Tenville Junction, Iowa.
In der Scheune war es dunkel.
»Dick?«, sagte Perry.
»Hier drüben«, sagte Dick. Er fläzte sich auf einem Lager aus Heu.
Durchnässt und bibbernd vor Kälte ließ Perry sich neben ihn plumpsen. »Mir ist so kalt«, sagte er und vergrub sich im Heu, »mir ist so kalt, meinetwegen könnte die Bude in Flammen aufgehen und mich bei lebendigem Leibe verbrennen.« Außerdem knurrte ihm der Magen. Er war halb verhungert. Seit gestern Abend hatten sie, außer einem Teller Suppe bei der Heilsarmee, nichts weiter zu sich genommen als Kaugummi und ein paar Schokoriegel, die Dick aus dem Süßwarenregal eines Drugstores hatte mitgehen lassen. »Ist noch Schokolade da?«, fragte Perry.
Nein, aber er hatte noch ein Päckchen Kaugummi. Sie teilten es, stopften sich jeder zweieinhalb Streifen Doublemint – Dicks Lieblingsgeschmack (Perry bevorzugte Juicy Fruit) – in den Mund und kauten laut schmatzend darauf herum. Sie hatten ernste Geldprobleme. Ihr finanzieller Engpass hatte Dick zu einem Schritt verleitet, den Perry für »puren Irrsinn« hielt – die Rückkehr nach Kansas City. Als Dick das erste Mal auf Rückkehr drängte, meinte Perry: »Du solltest dich mal untersuchen lassen.« Jetzt, wo sie aneinandergedrängt in der dunklen Kälte kauerten und dem dunklen, kalten Regen lauschten, setzten sie die
Weitere Kostenlose Bücher