Kaltblütig
Kurz darauf, ich glaube, im September, bekam ich dann einen zweiten Brief. Mein Vater war sehr wütend; Perry und er waren aneinandergeraten und hatten sich noch vor der Grenze getrennt. Perry kehrte um, und mein Vater ging allein nach Alaska.«
»Und seitdem hat er Ihnen nicht mehr geschrieben?«
»Nein.«
»Dann wäre es also durchaus möglich, dass Ihr Bruder innerhalb der letzten vier Wochen zu ihm gefahren ist.«
»Das weiß ich nicht. Und ich will es auch nicht wissen.«
»Sie verstehen sich nicht besonders gut?«
»Mit Perry? Nein, ich habe Angst vor ihm.«
»Aber als er in Lansing einsaß, haben Sie ihm oft geschrieben. Wenn man den zuständigen Behörden glauben darf«, sagte Nye. Der zweite Mann, Inspector Guthrie, schien sich mit der Rolle des Zuhörers zu begnügen.
»Ich wollte ihm helfen. Ich hatte die Hoffnung, ihn ändern zu können. Inzwischen weiß ich es besser. Perry pfeift auf die Rechte anderer Menschen. Er hat vor nichts und niemandem Respekt.«
»Hat er Freunde? Wissen Sie, bei wem er untergekommen sein könnte?«
»Joe James«, sagte sie und erklärte, James sei ein junger Indianer, der als Holzfäller und Fischer in den Wäldern bei Bellingham, Washington, lebe. Nein, sie kenne ihn nicht persönlich, sie wisse nur, dass er und seine Familie sehr großzügig seien und Perry schon mehrmals geholfen hätten. Die einzige mit Perry befreundete Person, die sie tatsächlich kenne, sei eine junge Frau, die im Juni 1955 vor ihrer Tür gestanden habe, mit einem Brief von Perry, in dem dieser sie als seine Frau vorstellte. »Er schrieb, er sei in Schwierigkeiten, und bat uns, sich um seine Frau zu kümmern, bis er sie zu sich holen könne. Das Mädchen sah aus wie zwanzig; wie sich herausstellte, war sie erst vierzehn. Und natürlich auch nicht seine Frau. Aber damals fiel ich darauf herein. Ich hatte Mitleid mit ihr und nahm sie bei uns auf. Sie blieb allerdings nicht lange.
Nicht mal eine Woche. Und als sie ging, nahm sie unsere Koffer mit und alles, was sie darin unterbringen konnte – einen Großteil unserer Kleider, das Silber, ja sogar die Küchenuhr.«
»Wo haben Sie damals gewohnt?«
»In Denver.«
»Haben Sie je in Fort Scott, Kansas, gewohnt?«
»Nein. Ich war noch nie in Kansas.«
»Haben sie eine Schwester in Fort Scott?«
»Meine Schwester ist tot. Meine einzige Schwester.«
Nye lächelte. »Ich möchte Ihnen nichts vormachen, Mrs. Johnson«, sagte er. »Wir gehen davon aus, dass Ihr Bruder sich mit Ihnen in Verbindung setzen wird. Schriftlich oder telefonisch. Wenn nicht sogar persönlich.«
»Das will ich nicht hoffen. Außerdem hat er keine Ahnung, dass wir umgezogen sind. Er denkt, ich wäre noch in Denver. Wenn Sie ihn finden, geben Sie ihm bitte auf keinen Fall meine Adresse. Ich habe Angst.«
»Wovor? Dass er Ihnen etwas antun könnte?«
Sie dachte nach, konnte sich jedoch nicht recht entscheiden. »Ich weiß nicht. Trotzdem habe ich Angst vor ihm. Ich habe schon immer Angst vor ihm gehabt. Er wirkt manchmal so warmherzig und mitfühlend. So sanft.
Er hat nah am Wasser gebaut. Bisweilen bricht er bei Musik in Tränen aus, und als kleiner Junge weinte er oft, weil er den Sonnenuntergang so schön fand. Oder den Mond. Er ist falsch wie eine Schlange. Er kann einen derart hinters Licht führen, dass man vor Mitleid fast vergehen möchte …«
Es läutete an der Tür. Mrs. Johnsons zögerliche Reaktion offenbarte ihr Dilemma, und Nye (der später über sie schrieb: »Sie blieb während der gesamten Befragung beherrscht und ausgesprochen freundlich. Eine ungemein charakterstarke Frau«) griff zu seinem braunen Snapbrim.
»Entschuldigen Sie die Störung, Mrs. Johnson. Aber wenn Sie von Perry hören, sind Sie hoffentlich so vernünftig, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Verlangen Sie Inspector Guthrie.«
Kaum waren die Beamten aufgebrochen, verlor sie die Beherrschung, die Nye so sehr beeindruckt hatte, und die altbekannte Schwermut überkam sie. Sie kämpfte dagegen an, zögerte ihre niederschmetternde Wirkung hinaus, bis die Party vorbei und der Besuch gegangen war, bis die Kinder gegessen, gebadet und ihr Nachtgebet gesprochen hatten. Dann beschlich sie die Trübsal wie der abendliche Nebel, der vom Meer heraufkroch und die Straßenlaternen verschlang. Sie hatte gesagt, sie habe Angst vor Perry, und das entsprach durchaus der Wahrheit, aber galt ihre Furcht wirklich nur Perry oder nicht doch dem großen Ganzen, von dem Perry nur ein kleiner Teil war, dem
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