Kaltblütig
Ernst. Springt da was für mich bei raus? ’ne Belohnung?« Sie wartete auf eine Antwort; als keine kam, zögerte sie einen Augenblick, sprach dann aber doch weiter. »Ich hatte den Eindruck, dass er da, wo er hinwollte, nicht lange bleibt. Und über kurz oder lang zurückkommt. Ich hab eigentlich täglich damit gerechnet, dass er wieder auf der Matte steht.« Sie deutete mit einem Nicken hinter sich. »Kommen Sie mit. Dann zeig ich’s Ihnen.«
Treppen. Graue Korridore. Nye witterte Gerüche und versuchte, sie zu unterscheiden: Toilettenreiniger, Alkohol, kalte Zigarren. Hinter einer Tür schrie und sang ein betrunkener Mieter, entweder vor Glück oder vor Kummer. »Reg dich ab, Dutch! Ruhe oder du fliegst raus!«, brüllte die Frau. »Hier«, wandte sie sich an Nye und öffnete die Tür zu einem dunklen Abstellraum. Sie knipste das Licht an. »Da drüben. Der Karton. Er hat mich gebeten, ihn aufzubewahren, bis er wiederkommt.«
Der Karton war nicht in Packpapier gewickelt, aber mit Kordel verschnürt. Eine an einen ägyptischen Fluch gemahnende Warnung war mit Buntstift auf den Deckel gemalt: » Achtung! Eigentum von Perry E. Smith!
Achtung! « Nye löste die Schnur; wie er zu seinem Leidwesen feststellen musste, war der Knoten ein anderer als der Halbe Schlag, den die Killer beim Fesseln der Familie Clutter benutzt hatten. Er öffnete den Karton.
Eine Kakerlake krabbelte daraus hervor, und die Wirtin zertrat sie mit dem Absatz ihrer goldenen Ledersandale.
»He!«, machte sie, als sie Smiths Habseligkeiten vorsichtig zutage förderte und eingehend inspizierte. »Dieser Halunke. Das ist mein Handtuch.« Neben dem Handtuch verzeichnete der penible Nye in seinem Notizbuch: »Ein schmutziges Kissen, ›Souvenir aus Honolulu‹; eine rosa Babydecke; ein Paar Khakihosen; eine Aluminiumpfanne mit Bratenwender.« Ferner weitere Kleinigkeiten, darunter eine dicke Kladde mit Fotos aus Body-Building-Magazinen (schweißtriefende Studien von gewichthebenden Gewichthebern) und, in einer Schuhschachtel, eine Sammlung von Medikamenten: Mundwasser und Pulver gegen Zahnfleischentzündung sowie eine erstaunliche Menge Aspirin – mindestens ein Dutzend Fläschchen, die meisten davon leer.
»Plunder«, meinte die Vermieterin. »Nichts als Müll.«
Ja, es war wertloses Zeug, selbst für einen indizienhungrigen Detective. Dennoch war Nye froh, es gesehen zu haben; mit jedem Gegenstand – die Mundpflegemittel, das speckige Kissen aus Honolulu – nahm sein Bild des Besitzers und seines einsamen, armseligen Lebens deutlichere Gestalt an.
Tags darauf in Reno notierte Nye in seinem offiziellen Bericht: »9.00 Uhr Besprechung des unterzeichneten Agenten mit Mr. Bill Driscoll, Chefermittler Sheriff’s Office, Washoe County, Reno, Nevada. Nach einer kurzen Zusammenfassung des Falles bekam Mr. Driscoll Lichtbilder, Fingerabdruckblätter und Haftbefehle für Hickock und Smith ausgehändigt. Nach den beiden Verdächtigen und dem Fahrzeug wurde Fahndung eingeleitet. 10.30 Uhr Besprechung des unterzeichneten Agenten mit Sgt. Abe Feroah, Detective Division, Police Department, Reno, Nevada. Sgt. Feroah und der unterzeichnete Agent sahen die Polizeiakten ein. Weder Smith noch Hickock sind in der Verbrecherkartei registriert. Eine Überprüfung der Leihhausakten gab keinerlei Aufschluss über den Verbleib des Radios. Für den Fall, dass das Radio in Reno verpfändet wird, wurde Sachfahndung eingeleitet. Der mit der Überprüfung der Leihhäuser beauftragte Detective legte den örtlichen Pfandleihern Lichtbilder von Smith und Hickock vor und befragte sie persönlich nach dem Radio. Die Pfandleiher konnten Smith zwar identifizieren, aber keine weiteren Angaben machen.«
Soweit der Vormittag. Nachmittags begab Nye sich auf die Spur von Tex John Smith. Aber schon auf dem Postamt, wo er als Erstes Station machte, eröffnete ihm der Beamte am Postlagerschalter, er brauche nicht weiter zu suchen – jedenfalls nicht in Nevada –, denn »der Betreffende« sei bereits im vorigen August fortgezogen und lebe jetzt in der Nähe von Circle City, Alaska.
Zumindest lasse er sich dorthin seine Post nachsenden.
»Meine Güte! Das ist aber reichlich viel verlangt«, erwiderte der Beamte auf Nyes Bitte um eine Beschreibung von Smith senior. »Der könnte glatt einem Buch entsprungen sein. Er nennt sich ›einsamer Wolf‹.
Ein Großteil seiner Post ist an diesen Namen adressiert – Lone Wolf. Er bekommt nicht viele Briefe, nein, aber stapelweise Kataloge
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