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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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anderen Kindern manchmal schickte – Fotos, von denen einige, versehen mit Unterschriften in weißer Tinte, auch in diesem Album klebten: »Perry, Dad und ihr Schlittenhund«, »Perry und Dad beim Goldschürfen«, »Perry auf Bärenjagd in Alaska«. Letzteres zeigte ihn als pelzbemützten Fünfzehnjährigen auf Schneeschuhen zwischen schneeschweren Bäumen, ein Gewehr unter den Arm geklemmt; das Gesicht schmal und abgehärmt, die Augen traurig und ganz müde, und beim Betrachten des Bildes musste Mrs. Johnson unwillkürlich an eine »Szene« denken, die Perry ihr einmal gemacht hatte, als er in Denver zu Besuch gewesen war, im Frühling 1955 – seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen. Sie sprachen über seine Kindheit mit Tex John, und plötzlich stieß Perry, der zu viel getrunken hatte, sie gegen die Wand und hielt sie dort fest. »Ich war sein Nigger«, sagte Perry. »Weiter nichts.
    Jemand, den er bis zum Umfallen schuften lassen konnte, ohne ihm auch nur einen müden Penny dafür zu bezahlen. Nein, Bobo, jetzt rede ich. Halt’s Maul, oder ich werf dich in den Fluss. Wie damals in Japan. Ich ging über eine Brücke, und da stand ein Kerl, den ich noch nie gesehen hatte; ich hab ihn mir gegriffen und ihn in den Fluss geworfen.
    Bitte, Bobo. Bitte, hör mir zu. Ich kann mich doch selbst nicht leiden! Mensch, was hätte aus mir werden können!
    Aber dieses Schwein hat mir von Anfang an alles verbaut. Er hat mich ja noch nicht mal zur Schule gehen lassen.
    Okay. Okay. Ich war ein schwieriges Kind. Aber irgendwann hab ich ihn praktisch auf Knien angefleht, zur Schule gehen zu dürfen. Ich hab nämlich Köpfchen. Falls du’s noch nicht gemerkt hast. Köpfchen und obendrein Talent. Aber null Bildung, weil er nicht wollte, dass ich etwas lerne, bloß wie man sich für ihn krumm und bucklig schindet. Dumm. Unwissend. So wollte er mich haben. Damit ich ihm nicht entkommen konnte. Aber du, Bobo. Du durftest zur Schule gehen. Du und Jimmy und Fern. Ihr habt alle was gelernt. Alle, nur ich nicht. Und darum hasse ich euch, euch alle – und Dad erst recht.«
    Als ob das Leben für seine Geschwister ein Zuckerschlecken gewesen wäre! Es sei denn, das hieß, Mamas im Suff Erbrochenes aufzuwischen, nie etwas Ordentliches zum Anziehen und nie genug zu essen zu haben. Aber er hatte recht, alle drei hatten die High School abgeschlossen, Jimmy sogar als Klassenbester – ein Ehrentitel, den er einzig und allein seiner Willenskraft verdankte.
    Und genau das, fand Barbara Johnson, machte seinen Selbstmord so rätselhaft. Charakterstärke, Mut und Fleiß – wie es schien, war keine dieser Eigenschaften ein bestimmender Faktor für das Schicksal der Geschwister.
    Sie teilten ein Los, vor dem auch Tugend keinen Schutz bot. Dabei war Perry alles andere als tugendhaft, von Fern gar nicht zu reden. Mit vierzehn hatte sie ihren alten Namen abgelegt und die kurze Zeit, die ihr noch blieb, damit verbracht, ihren neuen Namen zu rechtfertigen: Joy. Sie war ein leichtlebiges Mädchen, »jedermanns Liebling« – etwas zu leichtlebig, denn sie hatte eine Schwäche für Männer, auch wenn ihr mit ihnen aus irgendeinem Grunde wenig Glück beschieden war. Weil die Männer, zu denen sie sich hingezogen fühlte, sie aus irgendeinem Grunde jedes Mal enttäuschten. Ihre Mutter war im Alkoholkoma gestorben, und sie hatte Angst vor Alkohol – trotzdem trank sie. Fern-Joy war noch keine zwanzig, da begann sie den Tag schon mit einer Flasche Bier. Dann, an einem Sommerabend, fiel sie aus dem Fenster ihres Hotelzimmers. Sie prallte auf das Vordach eines Theaters, stürzte auf die Straße und rollte unter die Räder eines Taxis. Oben, in dem verlassenen Zimmer, fand die Polizei ihre Schuhe, ein leeres Portemonnaie und eine leere Whiskyflasche.
    Man konnte Fern verstehen und ihr verzeihen; mit Jimmy war das anders. Mrs. Johnson betrachtete ein Bild, auf dem er einen Matrosenanzug trug; im Krieg hatte er bei der Marine gedient. Ein schlanker, blasser junger Seemann mit langem, schmalem Gesicht, das ihm das Aussehen eines griesgrämigen Heiligen verlieh, einen Arm um die Hüfte des Mädchens geschlungen, das er geheiratet hatte, was er niemals hätte tun dürfen, denn sie hatten nichts gemeinsam – der ernste Jimmy und seine halbwüchsige Schlachtenbummlerin aus San Diego, deren Glasperlenkette das Licht einer längst verglühten Sonne reflektierte. Und doch war das, was Jimmy für sie empfunden hatte, mehr als nur Liebe; es war Leidenschaft – eine

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