Kaltblütig
und Prospekte. Sie würden sich wundern, wie viele Leute sich dieses Zeug schicken lassen – nur damit sie überhaupt Post bekommen. Wie alt? So um die sechzig, würde ich sagen. Kleidet sich im Western-Stil – Cowboystiefel und großer Hut. Er hat mir erzählt, dass er mal Rodeoreiter war. Wir haben uns des Öfteren unterhalten. Schließlich war er in den letzten Jahren fast täglich hier. Ab und zu verschwand er und tauchte vier Wochen unter – angeblich zum Goldschürfen. Eines Tages im August kam ein junger Mann hier an den Schalter. Er suche seinen Vater Tex John Smith, ob ich wüsste, wo er zu finden war? Er sah seinem Vater nicht besonders ähnlich; der Wolf ist ein typischer, schmallippiger Ire, der Junge hingegen sah fast wie ein reinrassiger Indianer aus – die Haare schwarz wie Stiefelwichse, die Augen genauso. Aber am nächsten Morgen kommt der Wolf hereinspaziert und sagt, ja, sein Sohn war gerade aus der Army entlassen worden, und jetzt wollten sie zusammen nach Alaska. Mit Alaska hat er’s ja. Ich glaube, er hatte mal ein Hotel da oben, ’ne Jagdhütte oder so. Er sagte, er wollte mindestens zwei Jahre bleiben. Nee, seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen, weder ihn noch seinen Sohn.«
Die Familie Johnson war erst kürzlich nach San Francisco gezogen – in eine Neubausiedlung für Mittelstandsfamilien mit mittlerem Einkommen, hoch in den Hügeln nördlich der Stadt. Am Nachmittag des 18. Dezember 1959 erwartete die junge Mrs. Johnson Gäste: drei Frauen aus der Nachbarschaft, die zu Kaffee, Kuchen und Kartenspielen vorbeikommen wollten. Die Dame des Hauses war nervös; es war das erste Mal, dass sie in ihrem neuen Heim Besuch empfing. Während sie auf das Schrillen der Türklingel lauschte, machte sie einen letzten Rundgang, entfernte hier eine Fussel und zupfte dort ein Arrangement von Weihnachtssternen zurecht. Das Haus war, wie die anderen Häuser an der abfallenden Hügelstraße, ein konventionelles Vororthaus im Ranchstil, freundlich und unscheinbar. Mrs. Johnson liebte es; sie war regelrecht vernarrt in die Redwoodtäfelung, die Teppichböden, die Panoramafenster vorn und hinten, den Ausblick, den das Fenster an der Rückseite des Hauses bot – Hügel, ein Tal, dann Meer und Himmel. Und sie war stolz auf ihren kleinen Garten; ihr Mann – Versicherungsvertreter von Beruf, Hobbyschreiner aus Passion – hatte eine Hundehütte, einen Sandkasten und Schaukeln für die Kinder gebaut und alles mit einem weißen Lattenzaun umgeben. Im Augenblick spielten die vier – der Hund, zwei kleine Jungen und ein Mädchen – draußen unter einem milden Himmel; Mrs. Johnson hoffte, dass sie sich im Garten still vergnügen würden, bis die Gäste wieder weg waren. Als es klingelte, ging Mrs. Johnson in dem Kleid, das ihr, wie sie fand, am besten stand, zur Tür – ein gelbes Strickkleid, das ihre Figur betonte und das blass schimmernde Teebraun ihres Cherokesenteints und ihr schwarzes, kurzgeschnittenes Haar besonders gut zur Geltung brachte. Sie öffnete die Tür, um die drei Nachbarsfrauen einzulassen; stattdessen sah sie sich zwei Fremden gegenüber – Männer, die sich an den Hut tippten und ihre Dienstmarken vorzeigten. »Mrs. Johnson?«, sagte der eine. »Mein Name ist Nye. Das ist Inspector Guthrie.
Wir arbeiten für die Polizei von San Francisco und haben aus Kansas soeben eine Anfrage wegen Ihres Bruders Perry Edward Smith erhalten. Wie es scheint, hat er sich nicht bei seinem Bewährungshelfer gemeldet, und wir haben uns gefragt, ob Sie uns vielleicht etwas über seinen derzeitigen Aufenthaltsort sagen können.«
Mrs. Johnson war weder bestürzt, noch wunderte es sie im Geringsten, dass die Polizei sich wieder einmal für die Machenschaften ihres Bruders interessierte. Was sie jedoch beunruhigte, war der Gedanke, dass ihre Gäste womöglich mitbekämen, dass sie von der Polizei befragt wurde. »Nein«, sagte sie. »Leider nicht. Ich habe Perry seit vier Jahren nicht gesehen.«
»Es handelt sich um eine ernste Angelegenheit, Mrs. Johnson«, sagte Nye. »Wir würden mit Ihnen gern darüber sprechen.«
Nachdem sie eingelenkt, die beiden hereingebeten und ihnen Kaffee angeboten hatte (den sie dankbar annahmen), sagte Mrs. Johnson: »Ich habe Perry seit vier Jahren nicht gesehen. Und seit seiner Entlassung auch nichts von ihm gehört. Als er im Sommer aus dem Gefängnis kam, hat er meinen Vater in Reno besucht.
Mein Vater schrieb mir, er wolle nach Alaska zurückgehen und Perry mitnehmen.
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