Kalte Fluten
verständnisvoll. »Ein Wasser?«
»Gerne.«
Thomas ging in den Nebenraum und schenkte ein Glas Mineralwasser ein, das er mit K.-o.-Tropfen vermengte. Wolfgang sackte augenblicklich in sich zusammen. Dann injizierte Thomas ihm ein Serum. Es war die letzte Chance.
Als die Wirkung der K.-o.-Tropfen nachließ, hatte das Serum bereits zu wirken begonnen.
Es kam Thomas fast schon unwirklich vor. Es war schrecklich. Detailliert schrieb er Wolfgangs Geständnis nieder. Wie eine Stenotypistin aus längst vergangenen Tagen notierte er die ganze, bittere Geschichte.
Dann brachte er den verwirrten Wolfgang persönlich nach Hause. Er legte ihn ins Bett. Wolfgang würde sich nicht erinnern können. Wiebke musste erfahren, was er herausgefunden hatte. Nur wie?
Zurück in seinem Arztzimmer, tippte er den Bericht und heftete den Ausdruck in die Patientenakte. »Freitag, 27. Mai. Bericht über die Behandlung des Patienten Wolfgang Franke«, begann er, und erst vierzehn Seiten später war er fertig.
Nach langem Nachdenken hatte er endlich den ersehnten rettenden Einfall. So würde Wiebke das erfahren, was sie wissen musste, ohne dass er seine Schweigepflicht verletzte. Ja, so würde es gehen.
***
Seufzend blätterte Wiebke am Samstag durch die vorläufigen Berichte der Spurensicherung. Sie saß allein zu Hause, denn Thomas war wieder einmal mit seinem Bruder segeln. Aber sie hatte zwei neue Morde aufzuklären, und deshalb hielt sich ihre übliche Wut darüber in Grenzen.
Kurz versetzte sie sich an die Strände der Seychellen. Sie waren ganz allein an einem schneeweißen Sandstrand. Das glasklare Wasser umspülte ihre Beine. Der Himmel erstrahlte im schönsten Blau. Heute Abend gäbe es Hummer. Dazu würde sie einen leichten Weißwein wählen. Es war so schön und unbeschwert … Hör auf, Wiebke!, befahl sie sich.
Das Tatmuster war immer das gleiche. Wie schon bei der Leiche in dem Sarg. Mit Kabelbindern gefesselte Opfer, deren Tod niemand wirklich bedauerte. Menschen, die nach dem, was man so leichtfertig »das gesunde Volksempfinden« nannte, den Tod verdient hatten. Die bestraft gehörten, damit sie ihre Taten bereuten.
Beim ersten Mord der Serie hatte sie, mit Belinda Rietschotens Unterstützung, die Theorie vom Rachemord unter Drogenhändlern entwickelt. Doch Zweifel waren geblieben. Sie hatten Lüerßen nicht gefunden, und ihre Theorie basierte auf Indizien. Immerhin war Lüerßen zweifelsfrei einer der letzten Menschen gewesen, die Hansen lebend gesehen hatten. Selbst das war, wenn auch ein starkes, so doch nur ein Indiz und kein Beweis.
Die beiden Eltern, die ihr Kind gequält hatten und es verhungern ließen, waren von Kiesewetter umgebracht worden. Er hatte die Tat im Internet angekündigt und ein Geständnis abgelegt. Quasi nebenbei hatte er auch noch gestanden, Hansen und Lüerßen umgebracht zu haben. Sie war davon nie völlig überzeugt gewesen, das Landgericht jedoch schon, das ihn nach im wahrsten Sinne des Wortes kurzem Prozess lebenslang hinter Gitter verbannt hatte. Er konnte also diesen Tormann nebst Rentner und Dackel sowie Russen-Egon nicht umgebracht haben. Das wiederum führte sie erneut zu der Frage, ob Kiesewetter nicht ein falsches Geständnis abgelegt hatte, um, wie er ihr ins Ohr geflüstert hatte, den wahren Täter noch viel Gutes tun lassen zu können. Verrückt genug für so einen Wahnsinn war Kiesewetter jedenfalls.
Vielleicht suchte sie aber nicht einen, sondern mehrere Täter. Nicht wenige fanden heutzutage die Idee der Lynchjustiz so überzeugend, dass sie das Tatmuster kopiert haben könnten. Ein Trittbrettfahrer? Es könnten Tausende sein.
Sollte sie mit denjenigen anfangen, die begeisterte Hymnen in Leserbriefen und Internetforen verfassten, um diejenigen zu rechtfertigen, die Menschen töteten, die ihrer Meinung nach den Tod verdient hatten? Immerhin hatte sie ja so Kiesewetter gekriegt. Das aber setzte logisch voraus, dass er es wirklich war. Und selbst wenn dem so war: Kiesewetter war ein Sonderling und nicht besonders schlau. Was wäre, wenn der Trittbrettfahrer intelligent genug war, keine Spuren im Netz zu hinterlassen? Dann wäre die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen leichter zu finden.
Nachdenklich stand sie auf, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Weiter weg von der Lösung der Fälle hatte sie sich noch nie gefühlt.
Dann sah sie sie. Die Akte. Wolfgang Frankes Patientenakte. Thomas musste sie vergessen haben. Sie kämpfte mit ihrem Gewissen. Doch weibliche
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